Die gute Herstellungspraxis

 

Normierung aus der Sicht des Zivilrechts: Vertragsrecht, Schadensrecht, Produkthaftung

 

Vortrag zum 10. Deutschen Lebensmittelrechtstag

 

Z LR 1997,  303

 

1. Vorbemerkung

 

Die Frage nach der Bedeutung der nicht gesetzlichen Normierung im Privatrecht bezieht sich auf ein Rechtsgebiet, das sich systematisch von dem Lebensmittelrecht grundlegend unter- scheidet. Für Nichtjuristen scheint es erforderlich, diesen grundsätzlichen Unterschied kurz aufzuzeigen. Dies kann allerdings nur in ganz groben Zügen geschehen.

 

Das Lebensmittelrecht ist Teil des öffentlichen Rechts, zu dem in einem weiteren Sinne auch das Straf- und Bußgeldrecht gehört. Das öffentliche Recht ist dadurch gekennzeichnet, daß die Träger von Rechten und Pflichten in einem Verhältnis der Über- und Unterordnung stehen. Dabei ist übergeordnet der durch seine Organe handelnde Staat, untergeordnet jede Person, Personengruppe oder nicht staatliche Organisation, die Adressat staatlicher Maßnahmen ist. Öffentliches Recht sind diejenigen Vorschriften, die dem Staat die Rechtsgrundlage für sein staatliches Handeln geben.

 

Dieses Modell für das Verständnis des öffentlichen Rechts hat allerdings heute keine all-gemeine Gültigkeit mehr. Insbesondere im Bereich der öffentlichen Daseinsfürsorge ist es zumindest modifiziert. Das muß hier jedoch nicht weiter behandelt werden. Denn mit der Darstellung dieses Modells soll nur aufgezeigt werden, daß im Privatrecht nicht das Prinzip der Über- und Unterordnung, sondern das Prinzip der Gleichrangigkeit maßgebend ist.

 

Zwar greift der Staat auch in das Privatrecht durch Gesetze und Verordnungen ein. Er schafft dabei jedoch keine eigenen Rechte und Pflichten. Träger von Rechten und Pflichten sind im Privatrecht vielmehr die einzelnen Personen, zu denen auch die juristischen Personen, z.B. Aktiengesellschaften gehören.

 

Bei diesen privatrechtlichen Trägern von Rechten und Pflichten, also den Personen, gibt es keine anfängliche Über- und Unterordnung. Sie treten sich im gleichen Rangverhältnis gegenüber. Am deutlichsten zeigt sich dies daran, daß sie in direktem Verhältnis zueinander sich selbst Rechte und Pflichten geben können, indem sie Vereinbarungen, also Verträge schließen.

 

Dieses Verständnis von der Systematik des Privatrechts ist übrigens noch nicht sehr alt: Zwar ist das Privatrecht bereits im römischen Recht wissenschaftlich entwickelt worden. Der Begriff der Person als Träger von Rechten und Pflichten findet sich jedoch erstmals in der wissenschaftlichen Literatur des Mittelalters. Daß jeder Mensch in diesem Sinne Person und damit Träger von Rechten und Pflichten ist, hat sich endgültig erst im letzten Jahrhundert mit der Aufhebung der Leibeigenschaften durchgesetzt.

 

Da es sich bei der "Quasi-Gesetzgebung" nicht um staatliche Gesetze und Verordnungen, sondern um untergesetzliche Regelungen handelt, kann sie im Privatrecht nur dann Bedeutung haben, wenn die Gesetze und Verordnungen dies zulassen oder sie durch individuelle Vereinbarung in Verträge einbezogen werden.

 

Es ist also zu untersuchen, ob die privatrechtliehen Vorschriften Öffnungen enthalten, durch die "Quasi-Gesetzgebung" Einfluß auf die Privatrechtsverhältnisse gewinnt.

 

Dabei soll mit der Produkthaftung begonnen werden.

 

2. Produkthaftung

 

Dazu ist zunächst abzugrenzen, was hier als Produkthaftung zu behandeln ist.

 

In einem weiten Sinn gehört zur Produkthaftung auch die vertragliche Verpflichtung des Lieferanten gegenüber seinem Kunden, Ware entsprechend den vertraglichen Vereinbarungen herzustellen und zu liefern. Verletzt er diese Pflicht, können Schadensersatzansprüche des Kunden ausgelöst werden. Darauf wird erst bei der Darstellung des Vertragsrechts eingegan- gen.

 

Jahrzehntelang wurde unter Produkthaftung die gesetzliche Haftung verstanden, die sich aus dem Recht der unerlaubten Handlung ergibt. Geregelt ist dieses Recht in den §§ 823 ff BGB. Diese Rechtsmaterie gehört zu dem Komplex Schadensrecht.

 

Als Produkthaftung verbleibt hiernach die Haftung des Herstellers aufgrund des Produkt-haftungsgesetzes aus dem Jahre 1989, das bekanntlich durch eine entsprechende EG- Richtlinie vorgegeben wurde.

 

§ 1 dieses Gesetzes bestimmt die Produkthaftung wie folgt:

 

            Wird durch den Fehler eines Produktes jemand getötet, sein Körper oder seine Ge-
            sundheit verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Hersteller des Produktes
            verpflichtet, dem Geschädigten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.

 

Der entscheidende Begriff dieses Tatbestandes ist der "Fehler eines Produkts". Im Unterschied zu dem Fehlerbegriff des Vertragsrechts ist der Begriff im Rahmen des Produkthaftungsgesetzes definiert, und zwar wie folgt:

 

            Ein Produkt hat einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berück-        sichtigung aller Umstände, insbesondere

                        a) seiner Darbietung

                        b) des Gebrauchs, mit dem billigerweise gerechnet werden kann,

                        c) des Zeitpunkts, in dem es in den Verkehr gebracht wurde, berechtigterweise   erwartet werden kann.

 

In dieser Vorschrift das Öffnungstor für die "Quasi-Gesetzgebung" zu finden, ist nicht schwer. Es ist das Tatbestandsmerkmal

 

            Sicherheit, die berechtigterweise erwartet werden kann.

 

Denn dieses Tatbestandsmerkmal verweist ebenso wie der aus dem Lebensmittelrecht bestens bekannte Begriff der Verbrauchererwartung auf außerhalb der Vorschrift liegende Beur-teilungskriterien; es liegt deshalb die Annahme nahe, daß die im Rahmen des Lebensmittel- rechts zur Bestimmung der Verbrauchererwartung maßgebende "Quasi-Gesetzgebung" für den Fehlerbegriff des ProdukthaftungsG - allerdings nur neben den Kriterien Darbietung und Gebrauch - dieselbe Bedeutung hat, wie im Lebensmittelrecht.

 

Dagegen sprechen allerdings gewichtige Gründe, die auch in der Literatur geäußert werden (Gorny ZLR 93, 283, 295).

 

Es muß deshalb, bevor die Bedeutung der "Quasi-Gesetzgebung" im Produkthaftungsrecht behandelt wird, zunächst die Frage beantwortet werden, welche Erwartung der Fehlerbegriff des § 3 ProdukthaftungsG zugrunde legt.

 

Ein Seitenblick auf das Lebensmittelrecht zeigt, daß dies durchaus unklar sein kann. Sind es nur die Erwartungen der Verbraucher oder sind es auch die der Hersteller; oder der mit dem Produkt wissenschaftlich befaßten Personen oder der zuständigen Beamten oder aller Gruppierungen?

 

Die Beantwortung dieser Frage ergibt sich nach meiner Auffassung aus allgemeinen Erwä- gungen des Produkthaftungsrechts. Sie bestehen darin, daß der Fehlerbegriff bei einer gesetzlichen Haftungsnorm einheitlich ausgelegt werden muß. Dies trifft für den Fehlerbegriff ebenso zu wie z.B. für die Schutzgüter der gesetzlichen Haftung im Recht der unerlaubten Handlungen; die Begriffe Gesundheit, Eigentum und Sache im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB werden gleichermaßen nicht nach den subjektiven Erwartungen des Geschädigten oder einzelner Verkehrskreise ausgelegt, sondern nach den Erwartungen der Allgemeinheit. Nur so ist auch im Rahmen des § 3 ProdukthaftungsG gesichert, daß ein Produkt bei Abgabe an unterschiedliche Verkehrskreise nicht in einem Fall fehlerhaft, in dem anderen Fall aber nicht fehlerhaft ist.

 

Maßgebend sind hiernach bei dem Fehlerbegriff des § 3 ProdukthaftungsG die Erwartungen der Allgemeinheit. Das ergibt sich auch aus dem Wortlaut der Vorschrift, nämlich dem Satzteil "erwartet werden kann". Dementsprechend ist auch die herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung, daß der Fehlerbegriff des § 3 ProdukthaftungsG objektiv auszulegen ist.

 

Nun gibt es bei Erwartungen keine Objektivität im naturwissenschaftlichen Sinne. Objektivität bedeutet hier, daß die Ansichten derjenigen, auf deren Erwartungen abzustellen ist, vollstän- dig oder wenigstens weitgehend vollständig übereinstimmen.

 

Ein Fehler im Sinne des § 3 ProdukthaftG liegt hiernach vor, wenn das Produkt nicht die Sicherheit bietet, die nach den zumindest weitgehend übereinstimmenden Vorstellungen in der Allgemeinheit berechtigterweise erwartet werden kann.

 

Hiernach scheiden aus der "Quasi-Gesetzgebung" alle diejenigen Regelungswerke aus, die auf einzelne Verbraucherkreise abstellen.

 

Das gilt allerdings nicht, wenn Lebensmittel abgegrenzten Verbraucherkreisen, z.B. Diabetikern angeboten werden. Damit grenzt der Produzent selbst die Allgemeinheit ein, deren Erwartungen maßgebend sind. Dabei kann aber auch hier nicht nur auf die Erwartungen der Käufer des Produktes abgestellt werden; es sind vielmehr alle mit diesem speziellen Produkt befaßten Verkehrskreise maßgebend, also insbesondere auch die mit solchen Produkten befaßten Fachleute.

 

Im Unterschied zu einer Eingrenzung der Allgemeinheit durch das Angebot an spezielle Verbrauchergruppen können untergesetzliche Regelungen, die eine regionale Verkehrsauffassung innerhalb von Deutschland beschreiben, im Rahmen des § 3 ProdukthaftungsG nicht maßgebend sein. Es ist mit der schon dargestellten Systematik einer gesetzlichen Haftungsregelung nicht vereinbar, daß ein Produkt z.B. in Rheinland-Pfalz fehlerhaft ist, in sämtlichen sonstigen Bundesländern jedoch nicht. Eine regionale Verkehrsauffassung in Berlin oder Rheinland-Pfalz, die von dortigen Behörden oder Wirtschaftskreisen erarbeitet wurde, kann deshalb im Rahmen des Fehlerbegriffes in § 3 ProdukthaftungsG nicht berücksichtigt werden.

 

Damit ist allerdings das regionale Problem noch nicht erledigt. Fraglich ist nämlich, ob bei der Anwendung des Fehlerbegriffes auch Erwartungen außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere im Rahmen der EG zu berücksichtigen sind. Darauf deutet der Umstand hin, daß die Haftung nach dem ProdukthaftungsG, auf einer EG-Richtlinie beruht. Hinzukommt, daß vielfach die in Deutschland hergestellten sowie die aus dem Ausland stammenden und in Deutschland vertriebenen Produkte auch in Europa oder weltweit vertrieben werden; es liegt deshalb nahe, die Anforderungen an die Beschaffenheit nicht auf die Erwartungen der Allgemeinheit in Deutschland, sondern in der gesamten EG zu bestimmen.

 

Das hätte zur Folge, daß nur EG-weit bestehende "Quasi-Gesetzgebung", vor allem die EN- Normen und z.B. die von den Herstellern in Europa erarbeiteten Beurteilungsmerkmale für Brühen und Suppen heranzuziehen ist.

 

Gegen eine solche überregionale Erweiterung des Fehlerbegriffs im Produkthaftungsgesetz auf alle Anwendungsfälle spricht jedoch Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie; denn dort wird bei Fehlen europäischer Normen auf die

 

            "Normen des Mitgliedstaates, in dem sich das Produkt in Verkehr befindet"

 

abgestellt.

 

Nationale "Quasi-Gesetzgebung" kann deshalb für den Fehlerbegriff des Produkthaftungs- gesetzes jedenfalls dann maßgebend sein, wenn entsprechende Erwartungen in anderen EG- Mitgliedstaaten nicht bestehen. Deshalb sind z.B. die BEFFE-Werte in den Leitsätzen für Fleischerzeugnisse heranzuziehen, solange in anderen EG-Mitgliedstaaten keine vergleich- baren Feststellungen vorliegen.

 

Zu diskutieren ist schon eher, ob noch von einer berechtigten Erwartung im Sinne des § 3 ProdukthaftungsG dann ausgegangen werden kann, wenn die Erwartungen in anderen EG- Mitgliedsländern mit denen in Deutschland nicht übereinstimmen. Ein Seitenblick auf das Lebensmittelrecht und die dortigen Diskussionen um Marzipan und Löffelbiskuit legt es nahe, einen Fehler im Sinne des § 3 ProdukthaftungsG z. B. bei einer Pastete zu verneinen, die aus Dänemark kommt und hinsichtlich des Fettgehaltes den dortigen berechtigten Erwartungen entspricht, nicht jedoch der "Quasi-Gesetzgebung" in Deutschland.

 

Dafür spricht auch die Herkunft des Produkthaftungsgesetzes. Es beruht auf einer EG- Richtlinie, der die Überlegung zugrundeliegt, daß Produkte, also auch Lebensmittel, kosmeti- sche Mittel und Bedarfsgegenstände innerhalb der Gemeinschaft, also über die nationalen Grenzen hinaus vertrieben werden. Diesem Gesetzeszweck würde es ebenso wie im Lebens- mittelrecht auch im Produkthaftungsrecht nicht entsprechen, wegen unterschiedlicher Erwar- tungen in den einzelnen Mitgliedstaaten der EG das Produkt in einem Mitgliedstaat als fehlerhaft, in einem anderen dagegen als fehlerfrei zu beurteilen.

 

Einschlägige obergerichtliche Entscheidungen zu dieser Frage habe ich für den Bereich der Lebensmittel und kosmetischen Mittel sowie Tabakerzeugnisse und Bedarfsgegenstände bislang nicht gefunden. Ohnedies gibt es zur Bedeutung der lebensmittelrechtlichen "Quasi- Gesetzgebung" im Zivilrecht, und dies gilt auch für die nachfolgenden Kapitel, praktisch keine einschlägige Entscheidung (vgl. allgemein zur "Zurückhaltung" bei einer Berücksichtigung der Regeln der Technik im Haftungsrecht Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, 1979 S. 429). Anhaltspunkte aus der Rechtsprechung müssen aus anderen Wirtschaftsbereichen gewonnen werden. Dies sind insbesondere die Normen für technische Anforderungen, also die mit den Buchstaben EN abgekürzten europäischen Normen.

 

Äußerungen zu diesen Normen ergeben wenigstens Anhaltspunkte für den Fall, daß auf europäischer Ebene eine "Quasi-Gesetzgebung" vorhanden ist, daß also für bestimmte techni- sche Produkte EN-Normen bestehen. In diesem Fall besagt die herrschende Meinung, daß für den Fehlerbegriff des Produkthaftungsrechts die Europäische Norm zugrunde zu legen ist. Dies besagt auch Art. 4 Abs. 2 der EG-Richtlinie für Produkthaftung ziemlich klar.

 

Das gilt dann nach meiner Ansicht auch für Herstellerrichtlinien der Lebensmittelwirtschaft, die europaweit erarbeitet wurden und so auch angewandt werden. Sie können sicher als Mindestmaß der Erwartungen an die Beschaffenheit von Produkten im Sinne des Produkthaf- tungsgesetzes herangezogen werden. Der Umkehrschluß, daß nämlich ein Produkt nicht fehlerhaft ist, wenn es solchen Herstellerrichtlinien entspricht, ist allerdings nicht zulässig. Er kommt erst dann in Frage, wenn das von den Herstellern erarbeitete Regelungswerk in den Rang einer Norm auf europäischer Ebene gelangt.

 

Ähnlich zu beurteilen sind die Standards des Codex alimentarius. Sie sind allerdings nach meiner Ansicht wegen ihrer auf weltweite Anwendung gerichteten Konzeption in der Regel nicht geeignet, einen Fehler auszuschließen.

 

Zu ergänzen ist die Betrachtung der Produkthaftung noch durch einen Hinweis auf den Ausnahmetatbestand des § 2 Abs. 2 Nr. 5. Danach ist die Ersatzpflicht des Herstellers ausgeschlossen, wenn der Fehler nach dem Stand der Wissenschaft und Technik nicht erkannt werden konnte. Die Bezugnahme auf die untergesetzliche "Quasi-Gesetzgebung" ist hier offensichtlich. Rechtsprechung zur lebensmittelrechtlichen "Quasi-Gesetzgebung" ist mir auch hierzu nicht bekannt. Ein erfundenes Beispiel drängt sich aber auf, nämlich das Inverkehr- bringen von mit BSE befallenem Rindfleisch in einem Zeitpunkt, als die Möglichkeit einer Erkrankung des Menschen noch nicht erkannt war; zwar lag auch schon damals ein Fehler vor, die Haftung des Herstellers war jedoch gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 5 ausgeschlossen.

 

3. Schadensrecht

 

Unter Schadensrecht sind, wie gesagt, im Rahmen dieses Vortrags die Vorschriften über unerlaubte Handlungen zu verstehen. Für die Nichtjuristen sind die entsprechenden Vor- schriften kurz erläutern:

 

§ 823 Abs. 1 BGB bestimmt:

 

            Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit,      das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem     anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

 

Damit werden die sogenannten absoluten Rechtsgüter geschützt, zu denen z.B. die Gesund- heit, aber auch der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb gehört.

 

Eine gleiche Haftungsregelung, die nicht auf ein absolutes Rechtsgut, sondern auf Schutz- gesetze abstellt, enthält § 823 Abs. 2 BGB; er lautet:

 

            Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt.

 

Schutzgesetz in diesem Sinne ist z.B. das Verbot des § 8 LMBG, so daß bei einem Verstoß gegen diese Vorschrift der Hersteller des Lebensmittels gegenüber dem Verbraucher auf Schadensersatz haftet.

 

Da die beiden Absätze des § 823 BGB sehr unterschiedliche Anknüpfungspunkte für die Schadensersatzpflicht haben, ist die Bedeutung der "Quasi-Gesetzgebung" auch jeweils gesondert darzustellen.

 

3.1 § 823 Abs. 1 BGB

 

3.1.1 Ganz anders als bei § 3 ProdukthaftungsG läßt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift nicht ohne weiteres entnehmen, ob und ggf. wo ein Öffnungstor für die "Quasi-Gesetzge- bung" ist.

 

Die absolut geschützten Rechtsgüter Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum sind zwar Begriffe, die unter Berücksichtigung allgemeiner Anschauungen ausgelegt werden müssen. Es mag auch sein, daß mittelbar bei der Auslegung dieser Begriffe Kriterien aus dem Lebensmittelrecht bewußt oder unbewußt mit herangezogen werden. So könnte z.B. eine Beziehung zwischen dem Krankheitsbegriff des Lebensmittelrechts und dem Begriff der Gesundheit in § 823 Abs. 1 BGB hergestellt werden.

 

Eine unmittelbare Beeinflussung bei der Auslegung der Begriffe des § 823 Abs. 1 BGB durch untergesetzliche Regelungswerke des Lebensmittelrechts ist jedoch nicht erkennbar, so daß dem nicht weiter nachzugehen ist.

 

3.1.2 Dagegen ist eine eingehende Befassung mit dem Begriff widerrechtlich geboten.

 

Dazu ist vorab hervorzuheben, daß die "Quasi-Gesetzgebung" inhaltlich zu unterscheiden ist in

            Regelungen, die sich auf die Beschaffenheit der Erzeugnisse beziehen, z.B. die
            Leitsätze für alkoholfreie Erfrischungsgetränke

und

            Regelungen, die sich auf eine Handlung beziehen, z.B. die Angaben zur   Verwendung   von Wasser und Eis bei Fischerzeugnissen in den Leitsätzen für Fische usw. im           Deutschen Lebensmittelbuch.

 

Diese Unterscheidung ist bei der Prüfung, ob die "Quasi-Gesetzgebung“ bei der Widerrecht- lichkeit im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB zu berücksichtigen ist, von erheblicher Bedeutung.

 

Das ergibt sich daraus, daß es dogmatisch umstritten ist, wie der Begriff widerrechtlich im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB zu verstehen ist.

 

Er kann sich auf

            einen bestimmten Erfolg, z.B. die Verletzung der Gesundheit

oder

            ein bestimmtes Verhalten, z.B. das Zusetzen eines nicht zugelassenen Zusatzstoffes

 

beziehen. Da die erste dieser beiden Alternativen mehr am Wortlaut der Vorschrift orientiert ist, werden entsprechende Theorien in der Rechtswissenschaft als legislative Konzeption bezeichnet; die zweite Alternative, also die Beurteilung der Widerrechtlichkeit unter Be- zugnahme auf ein bestimmtes Verhalten, wurde in der Rechtsprechung entwickelt und wird deshalb als judizielle Konzeption bezeichnet (vgl. dazu näher Steffen in BGB-RGRK § 823 Rdn. 106 ff und Mertens in Münchener Kommentar § 823 Rdn. 1 ff).

 

Der Wortlaut des § 823 Abs. 1 BGB spricht zunächst dafür, daß für die Widerrechtlichkeit der Erfolg maßgebend ist. Denn die Vorschrift verbietet die Verletzung von Leben, Körper, Gesundheit und sonstigen Rechten, stellt also auf den Erfolg eines bestimmten Handeins ab.

 

Es gibt jedoch Sachverhalte, bei denen ein Unwerturteil ohne Bewertung des Verhaltens entweder nicht vertretbar oder nicht ausreichend ist. Stichworte dafür sind

 

            das verkehrsrichtige Verhalten,

           

            die Zurechnung von Handlungen Dritter und

           

            die sogenannten offenen Schutzgüter wie Persönlichkeitsrecht und Gewerbebe- trieb

 

(Vgl. Mertens, a. a. O. § 823 Rdn. 11 0 ff und die dort angegebene Rechtsprechung).

 

Ein Beispiel für verkehrsrichtiges Handeln ist aus dem Bereich des Lebensmittelrechts ein Gesundheitsschaden bei Allergikern durch ein ordnungsgemäß hergestelltes und gekenn- zeichnetes Lebensmittel. Trotz des "Erfolgs", nämlich der Verletzung des in § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsgutes Gesundheit, liegt zumindest in der Regel kein rechtswidriges Verhalten vor (Beispiele aus anderen Bereichen sind der aus ärztlicher Sicht angezeigte Heileingriff und die trotz Einhaltung der Spielregeln verursachte Sportverletzung, vgl. Mertens a.a.O. § 823 Rdn. 5).

 

Beispiele für die Zurechnung von Handlungen Dritter ergeben sich umfassend aus der Arbeitsteilung bei Herstellung und Handel von und mit Lebensmitteln: Obgleich der Arbeiter am Band den verbotenen Zusatzstoff zusetzt, handelt er nicht rechtswidrig, weil er an die Weisungen seines Vorgesetzten gebunden ist.

 

Besonders deutlich ist die Notwendigkeit einer gesonderten Beurteilung des Verhaltens, wenn festgestellt werden muß, ob ein Eingriff in einen Gewerbebetrieb vorliegt, der Schadens- ersatzverpflichtungen auslöst.

 

Diese kurze Betrachtung zeigt, daß eine ausschließlich auf den Erfolg, nämlich die Verletzung des Rechtsgutes abgestellte Anwendung des § 823 Abs. 1 nicht ausreichend ist. Die Recht- sprechung hat deshalb auch im Laufe der Jahrzehnte Verhaltenspflichten entwickelt, aus denen zu entnehmen ist, ob eine Handlung rechtswidrig ist oder nicht.

 

Es liegt auf der Hand, daß bei diesen Verhaltenspflichten auch die lebensmittelrechtliche "Quasi-Gesetzgebung" Bedeutung haben kann (so zur Bedeutung von Sicherheitsstandards und dem Stand der Technik Mertens, a.a.O. § 823 Rdn. 23 und 157; Marburger a.a.O. S. 439).

 

Dies gilt zunächst für diejenigen untergesetzlichen Normen, die sich auf das Handeln, also nicht auf den Erfolg beziehen. Dies sind insbesondere die bereits erwähnten Normen der Reihe ISO 9000 ff und die Grundsätze des HACCP-Konzeptes, soweit sie für einen Betrieb konkretisiert und so zertifiziert sind.

 

Dabei ist allerdings zu beachten, daß die Risikoanalyse und Dokumentation nach dem HACCP-Konzept ebenso wie die Anwendung der einschlägigen Normen aus der Reihe ISO 9000 nur einen Rahmen für die Herstellung von Lebensmitteln und den Handel gibt. Eine Berufung auf diese Werke schließt deshalb keineswegs automatisch die Rechtswidrigkeit einer Schadensverursachung aus.

 

Anweisungen zu bestimmten Handlungen bei der Herstellung von Lebensmitteln ergeben sich auch aus Leitsätzen im Deutschen Lebensmittelbuch. Zu verweisen ist auf die schon erwähnte Regelung zur Verwendung von Wasser und Eis in den Leitsätzen für Fische usw. Ein weiteres Beispiel ergibt sich aus Ziffer I C der Leitsätze für Margarine und Margarineschmalz.

 

Von erheblicher Bedeutung wären Regelungswerke zur hygienischen Praxis. Viele hygieni- schen Anforderungen sind jedoch zwischenzeitlich kodifiziert, so daß sie nicht mehr zur "Quasi-Gesetzgebung" gehören. Als Beispiel bleibt die Veröffentlichung einer Arbeitsgruppe der Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie zu mikrobiologischen Richt- und Warnwerten für Lebensmittel (DLR 1988, S. 127). Ganz erhebliche Bedeutung werden allerdings die "Leitlinien für eine gute Hygienepraxis " gewinnen, die gemäß Art. 5 der Richtlinie  93/43/EWG zur allgemeinen Lebensmittelhygiene erarbeitet werden.

 

Soweit Normen aus der "Quasi-Gesetzgebung" die Beschaffenheit eines Lebensmittels, kosmetischen Mittels usw. beschreiben, scheinen sie hier nicht einschlägig zu sein. Denn die Beschaffenheit eines Lebensmittels ist das Ergebnis der Herstellungshandlung und könnte damit im Sinne des § 823 Abs. 1 der "Erfolg" sein. Geschütztes Rechtsgut des § 823 Abs. 1 BGB ist jedoch nicht die Beschaffenheit des Lebensmittels, sondern die Gesundheit des Verbrauchers. Deshalb können bei der verhaltensbezogenen Rechtswidrigkeitsprüfung keineswegs die Normen der "Quasi-Gesetzgebung", die sich auf die Beschaffenheit des Lebensmittels beziehen, ausgeschlossen werden.

 

So ist wohl das Herstellen und Inverkehrbringen eines Lebensmittels, das höhere Schadstoff- gehalte aufweist, als die Richtwerte des ehemaligen BGA, im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB widerrechtlich, so daß bei Gesundheitsschäden durch den Verzehr dieses Lebensmittels eine Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB begründet wird, wenn auch Verschulden vorliegt.

 

Zusammengefaßt ergibt sich jedenfalls, daß die lebensmittelrechtliche "Quasi-Gesetzgebung" für die Beurteilung der Widerrechtlichkeit einer Schadenszufügung im Rahmen des verkehrs-richtigen Verhaltens erhebliche Bedeutung hat. Es ist erstaunlich, daß diese Verbindung zwischen lebensmittelrechtlichen Verhaltensregeln und den in der Rechtsprechung zu § 823 Abs. 1 BGB entwickelten Verkehrspflichten nur wenig beachtet wird. So enthält z.B. der Münchener Kommentar zum BGB, ein anerkannter Großkommentar (§ 823 Rdn. 25 ff) keinen einzigen Hinweis auf untergesetzlich festgestellte Verkehrspflichten aus dem Lebens- mittelrecht (vgl. dazu auch nochmals Marburger, a.a.O. S. 429). Noch krasser ist dies allerdings bei der Beziehung zwischen lebensmittelrechtlicher Sorgfaltspflicht und der Anwendung des zivilrechtlichen Fahrlässigkeitsbegriffes.

 

Bevor darauf eingegangen wird, ist darauf hinzuweisen, daß die lebensmittelrechtliche "Quasi-Gesetzgebung" auch bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeit im Zusammenhang mit der Zurechnung von Handlungen Dritter Bedeutung hat. Dies trifft in erster Linie für die Normen der Normenreihe ISO 9000 ff zu, weil sie in besonderem Maße die Handlungspflichten bei arbeitsteiliger Herstellung erfaßt. Aber auch Leitsätze im Deutschen Lebensmittelbuch können Bedeutung haben; so können z.B. die Leitsätze für Ölsamen herangezogen werden, wenn zu beurteilen ist, ob der Hersteller einer gesundheitsschädigenden Süßware oder dessen Lieferant von Rohmassen widerrechtlich gehandelt hat.

 

3.1.3 Steht fest, daß die Verletzung eines Schutzgutes im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB widerrechtlich ist, muß hier - anders als im Produkthaftungsgesetz - zusätzlich das Ver- schulden geprüft werden. Handelt der Schädiger vorsätzlich, ist das Verschulden indiziert. Ob er sich fahrlässig verhalten hat, bedarf ebenso wie im Straf- und Bußgeldrecht einer Prüfung im Einzelfall. Deswegen kann auch hier ein Einlaßtor für die "Quasi-Gesetzgebung" bestehen.

 

Gemäß § 276 BGB handelt fahrlässig, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht läßt. Diese Formulierung spricht auch den nicht juristisch vorgebildeten Lebensmittelrechtler an. Denn der Begriff "im Verkehr" schlägt für ihn deutlich eine Brücke zu der allgemeinen  Verkehrsauffassung des Lebensmittelrechts und der Begriff Sorgfalt weist zwangsläufig auf die lebensmittelrechtlichen Sorgfaltspflichten hin.

 

Trotz dieser gleichen Worte besteht zwischen der zivilrechtlichen Fahrlässigkeit und der straf- und bußgeldrechtlichen Fahrlässigkeit des Lebensmittelrechts nach allgemeiner Ansicht ein entscheidender Unterschied. Im Fahrlässigkeitsbegriff des § 276 BGB wird ganz anders als bei dem Fahrlässigkeitbegriff des Straf- und Bußgeldrechts nicht auf die Verhältnisse des einzelnen Individuums abgestellt, sondern auf einen objektiven, d.h. einen für die Allgemein- heit geltenden Maßstab. (Alff in BGB RGRK § 276 Rdn. 19; Hanau in Münchener Kom- mentar § 276 Rdn. 78; vgl. zum Lebensmittelrecht Gorny ZLR 93, 297).

 

Die Erklärung für diesen Unterschied ergibt sich aus dem unterschiedlichen Zweck der zivilrechtlichen Haftung einerseits und der lebensmittelrechtlichen Strafbarkeit andererseits:

 

            Die zivilrechtliche Haftung hat den Zweck, Voraussehbarkeit und Sicherheit in dem       umfassenden Verkehr mit Gegenständen und Dienstleistungen aller Art zu schaffen;     vor allem die Voraussehbarkeit wäre nachhaltig gestört, wenn auf die persönlichen          Besonderheiten des einzelnen Individuums, also der einzelnen Person, Rücksicht genommen werden müßte.

 

            Eine Bestrafung oder Ahndung im Straf- und Bußgeldverfahren setzt dagegen   nach    unserem Verständnis eine individuelle Schuld voraus, die nicht generalisierend      beurteilt werden kann.

 

Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen:

 

            Einerseits können bei der Prüfung der zivilrechtlichen Fahrlässigkeit individuelle            Momente, also z.B. meine persönliche Unfähigkeit, eine den lebensmittelrechtlichen        Anforderungen entsprechende Mahlzeit herzustellen, nicht berücksichtigt werden;

 

            andererseits sind in die Prüfung der zivilrechtlichen Fahrlässigkeit generelle         Anforderungen, die im Lebensmittelrecht bereits im Rahmen des Tatbestands oder der            Rechtswidrigkeit berücksichtigt werden, einzubeziehen.

 

Maßgebend für fahrlässiges Verhalten ist hiernach ein allgemeiner Maßstab, der aus "durch- schnittlichen Anforderungen" (so Hanau a.a.O. Rdn. 79) entnommen wird.

 

Dieser Begriff läßt den Lebensmittelrechtler aufmerken; denn die durchschnittlichen Anforde- rungen erinnern schnell an das im Lebensmittelrecht so heiß diskutierte Verbraucherleitbild.

 

Und in der Tat, auch im Rahmen der zivilrechtlichen Fahrlässigkeit stellt sich die Frage nach der Bezugsperson, die für solche durchschnittlichen Anforderungen maßgebend ist. Sie wird auch im Zivilrecht unterschiedlich beschrieben, der Bogen geht vom vernünftigen bis zum gewissenhaften Angehörigen der jeweiligen Verkehrskreise (Hanau a.a.O.).Allerdings spielt der flüchtige Verbraucher i.S. des traditionellen Verbraucherleitbildes des Lebensmittelrechts in der zivilrechtlichen Fahrlässigkeit praktisch keine Rolle.

 

Das ändert jedoch nichts daran, daß durch das Tor der "durchschnittlichen Anforderungen" auch die lebensmittelrechtliche "Quasi-Gesetzgebung" Bedeutung für die Beurteilung der Fahrlässigkeit i.S. des § 276 BGB gewinnt.

 

Dabei kommen allerdings, da sich die Begriffsbestimmung des § 276 BGB auf das Handeln bezieht, nur solche Regelungswerke in Betracht, die ein bestimmtes Handeln festlegen. Damit scheiden als "Quasi-Gesetzgebung", die bei der Beurteilung der Fahrlässigkeit zu berücksichtigen ist, alle Regelungen aus, die sich auf die Beschaffenheit eines Lebensmittels beziehen. Sowohl Herstellerrichtlinien als auch Leitsätze im Deutschen Lebensmittelbuch enthalten aber vielfach auch Angaben, die den Herstellungsvorgang und damit das Handeln betreffen.

 

Das gilt für alle Regelungswerke mit Anweisungen zu Analysenverfahren oder zur Durch- führung von Stichproben; werden solche Anweisungen nicht beachtet und ergibt sich daraus ein Schaden, so spricht zumindest eine starke Vermutung für ein vorwerfbares fahrlässiges Verhalten.

 

Auch zahlreiche Leitsätze im Deutschen Lebensmittelbuch sowie Herstellerrichtlinien enthal- ten Angaben zur Herstellung der jeweils behandelten Lebensmittel. Beispiele sind die Herstel- lungsanweisungen unter Ziffer I B und II D der Leitsätze für Fische usw., die schon erwähnt wurden. Weitere Beispiele sind Angaben zur Herstellung von Margarine in Ziffer I C der Leitsätze für Margarine und Margarineschmalz, Angaben zur Extraktion von Speiseölen in Ziffer I A 1 der Leitsätze sowie Anweisungen zur Herstellung von verarbeitetem Gemüse unter Buchstabe A der entsprechenden Leitsätze.

 

Von besonderer Bedeutung sind selbstverständlich auch hier die Leitlinien zur hygienischen Praxis, die in der Ratsrichtlinie 93/43/EWG über Lebensmittelhygiene befürwortet werden (vgl. Gorny ZLR 93,582). Werden solche Leitlinien nicht beachtet und entsteht dadurch eine gesundheitliche Beeinträchtigung, so ist zumindest in der Regel von einem fahrlässigen, also schuldhaftem Verhalten auszugehen.

 

Allerdings muß festgehalten werden, daß solche "Quasi-Gesetzgebung" nicht wie Vorschriften in Gesetzen und Verordnungen ungeprüft angewendet werden kann, es gibt keine zwingende Anwendung, maßgebend ist immer der Einzelfall (vgl. Hanau, a.a.O. § 276 Rdn. 94; vgl. auch Marburger a.a.O. S. 454 und 473, 474).

 

Mit dieser Einschränkung sind auch Verhaltensregeln der Normen aus der Reihe ISO 9000 ff von erheblicher Bedeutung. Auch daraus können sich allgemeine Handlungspflichten ergeben, die bei der Beurteilung der zivilrechtlichen Fahrlässigkeit zu berücksichtigen sind.

 

Mit diesen Normen haben wir uns allerdings bereits im Zusammenhang mit der Rechts- widrigkeit befaßt. Es erscheint auf den ersten Blick eigenartig, daß diese Normen sowohl bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit als auch zur Beurteilung der Fahrlässigkeit herangezogen werden können.

 

Dies hängt in erster Linie mit der bereits dargestellten Streitfrage zur Beurteilung der Widerrechtlichkeit bei § 823 Abs. 1 BGB zusammen (vgl. Mertens in BGB-RGRK § 823 Rdn. 108). Stark vereinfacht wird die Prüfung des richtigen Verhaltens in die Prüfung der Fahrlässigkeit verschoben, wenn die Rechtswidrigkeit allein erfolgsbezogen beurteilt wird, wenn also davon ausgegangen wird, daß jede Gesundheitsverletzung automatisch auch rechtswidrig ist.

 

Es läßt sich allerdings auch die Auffassung vertreten, daß bei der Beurteilung des Verhaltens, das zum Schaden geführt hat, zwischen

 

            allgemeinen Verhaltenspflichten und

           

            stärker auf die Verhältnisse des Schädigers abgestellte, also mehr individuelle     Verhaltenspflichten (Mertens a.a.O. § 823 Rdn. 118)

 

zu unterscheiden ist (zur Unterscheidung zwischen einer mittelbaren und unmittelbaren Verwirklichung des Verletzungstatbestandes vgl. Mertens a.a.O. § 823 Rdn. 109 und die dort

zitierte Literatur). So könnte z.B. die Qualitätskontrolle durch Stichproben den allgemeinen Verhaltenspflichten zugeordnet werden, die sorgfältige Auswahl der zu verwendeten Roh- stoffe den individuellen Verpflichtungen des Verantwortlichen für den Einkauf.

 

Da die rechtswissenschaftliche Diskussion zu dem Begriff Rechtswidrigkeit bzw. widerrecht- lich im Rahmen des § 823 BGB eine bald unübersehbare Zahl von Meinungen in allen Facetten hervorgebracht hat, kann darauf hier nicht näher eingegangen werden; es ist auch nicht der Platz, die lebensmittelrechtliche "Quasi-Gesetzgebung" in Regelungen aufzuteilen, die bei der Rechtswidrigkeitsprüfung und in andere Regelungen, die bei der Fahrlässigkeitsprüfung zu beachten sind.

 

Entscheidungen, in denen Regelungen aus der lebensmittelrechtlichen "Quasi-Gesetzgebung" bei der Beurteilung der zivilrechtlichen Fahrlässigkeit herangezogen wurden, waren nicht aus- findig zu machen. Um wenigstens einige Beispiele aus der Rechtsprechung nennen zu können, ist auf die Berücksichtigung einer "Quasi-Gesetzgebung" in anderen Produktbereichen zurück zu greifen:

 

Vielfach wird der Schuldvorwurf damit begründet, daß der Hersteller keine Vorsorge ent- sprechend dem Stand der Wissenschaft getroffen hat. So hat der BGH in einer Entscheidung vom 25.10.1988 zur Produkthaftung für Fischfutter dem Berufungsgericht die Prüfung aufgegeben, nach dem Stand der Wissenschaft zu beurteilen, ob der Futterhersteller wissen mußte, daß in seiner Mischanlage in das Futter bestimmte Zusätze gelangen (BGHZ 105, 346 =LRE 23, 24).

 

In einer Entscheidung vom 02.02.1988 (NJW-RR 88, 659) bezog sich der BGH zur Begrün- dung des Fahrlässigkeitsvorwurfs gegen den Betreiber einer Grill-Irnbißstube, in der ein Brand entstanden war, auf "Sicherheitsregeln für Küchen, Ausgabe 1984", die von dem Sachverständigen vorgelegt wurden.

 

Schließlich sei wegen der Produktnähe noch eine Entscheidung des LG Dortmund vom 12.03.1987 erwähnt (NJW-RR 87, 805): Es ging um die Verletzung eines Verbrauchers durch einen Schweinezahn in einer Rotwurst; maßgebend war auch hier der konkret ermittelte Stand der Technik, also keine niedergeschriebene "Quasi-Gesetzgebung". Der Fall gehört eigentlich nicht zu diesem Thema, weil "Quasi-Gesetzgebung" nur niedergeschriebene Regelungswerke sind. Er zeigt jedoch auf, daß die "Quasi-Gesetzgebung" nicht eindeutig abgrenzbar ist, weil sich der Sachverständige auch auf Sicherheits- und Hygienevorschriften berief.

 

Die Tatsache, daß es allenfalls wenige Entscheidungen gibt, mit denen die lebensmittelrecht- liche „Quasi-Gesetzgebung“ bei der Beurteilung der zivilrechtlichen Fahrlässigkeit berücksichtigt wurde, ist nach meiner Ansicht unverständlich. Das gilt allerdings nicht nur für die "Quasi-Gesetzgebung", sondern generell für die im Lebensmittelrecht entwickelten Sorgfaltspflichten, zumal diese Sorgfaltspflichten weitgehend als allgemeine Pflichten verstanden werden, und damit durchaus dem Sorgfaltsmaßstab des § 276 BOB ähnlich sind. Es drängt sich deshalb geradezu auf, bei der Prüfung der Fahrlässigkeit im Rahmen des § 276 BGB auch die lebensmittelrechtlichen Sorgfaltspflichten zu berücksichtigen. Soweit erkennbar spielen jedoch die lebensmittelrechtlichen Sorgfaltspflichten bei der Prüfung der zivilrechtlichen Fahrlässigkeit in der Rechtsprechung kaum eine Rolle. Mir ist dies erst vor kurzem wieder begegnet: Als ich mich zur Begründung des Schadensersatzanspruches gegen einen Verpflegungsbetrieb auf die Anforderungen der lebensmittelrechtlichen Sorgfaltspflicht für die Vermeidung von Salmonellen bezog, bin ich bei der Berichterstatterin des OLG München auf fast leidenschaftliches Unverständnis gestoßen.

 

3.2 § 823 Abs. 2 BGB

 

Gemäß § 823 Abs. 2 BGB ist schadensersatzverpflichtet, wer schuldhaft gegen ein Schutz- gesetz verstößt. Danach scheint die "Quasi-Gesetzgebung" im Rahmen dieser Bestimmung keine Bedeutung zu haben; denn sie ist dadurch charakterisiert, daß sie keinen Gesetzesrang hat, mithin auch kein Schutzgesetz im Sinne der Vorschrift sein kann (vgl. Marburger a.a.O. S. 487).

 

Diese Schlußfolgerung ist jedoch sachlich nicht richtig. Sie übersieht nämlich, daß die "Quasi-Gesetzgebung" indirekt auch hier Bedeutung haben kann, nämlich im Rahmen der Schutzgesetze, auf die § 823 Abs. 2 BGB verweist.

 

So enthalten beispielsweise die Leitsätze im Deutschen Lebensmittelbuch Feststellungen, die für die gesundheitliche Beurteilung des betreffenden Lebensmittels maßgebend sind und die deshalb im Rahmen des § 8 LMBG beachtet werden müssen. Da § 8 LMBG ein Schutz- gesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB ist, erhält auch die "Quasi-Gesetzgebung" einen Eingang in diese Vorschrift des Privatrechts.

 

Als weitere Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB sind bislang in der Rechtspre- chung neben § 8 LMBG § 2 MargarineG (BGH NJW 57, 1762, 1763), Vorschriften des Milch- und FettG (BGH LM § 823 Nr. 15, 16; DB 1956,547; NJW 1958, 177) sowie die §§ 3 und 8 der TrinkwasserV bezeichnet worden. Diese Vorschriften bieten jedoch für den Einstieg der "Quasi-Gesetzgebung" wenig Raum.

 

Ganz anders ist dies allerdings bei den Verbotsvorschriften des § 17 LMBG. Es läßt sich jedoch aus Rechtsprechung und Literatur derzeit nicht erkennen, ob auch diese Verbote als Schutzgesetze im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB zu berücksichtigen sind. Bejaht wurde dies durch das Reichsgericht (RGZ 170, 155) für den früheren § 4 Nr. 2 LMG. Dagegen wird die Parallelvorschrift des UWG, nämlich § 3, von dem BGH nicht als Schutzgesetz beurteilt; dies müßte zumindest auch auf die Verbote der Irreführung in § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG über- tragen werden. Allerdings ist diese Ansicht des BGH umstritten, es gibt gewichtige Gegen- meinungen.

 

Es ist festzuhalten, daß gegen eine unbeschränkte Anwendung der Verbote des § 17, ins- besondere des § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG gerade im Hinblick auf die Unübersichtlichkeit der hier maßgebenden Verbrauchererwartung erhebliche Bedenken geltend zu machen sind.

 

Das Schadensersatzrecht würde in weit größerem Maße als bisher Spielball demagogischer Berichterstattung und politischer Möchtegerne und das würde letztlich nur zu Verhältnissen führen, wie sie aus Schadensersatzprozessen in den USA bekannt sind.

 

Ich neige deshalb dazu, die allgemeinen Irreführungsvorschriften des Lebensmittelrechts und des UWG als Schutzgesetz auszuklammern und damit hier das Tor für die lebensmittel- rechtliche "Quasi-Gesetzgebung" verschlossen zu halten.

 

Abschließend soll noch ein Beispiel für die Bedeutung der "Quasi-Gesetzgebung" im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB gegeben werden, das allerdings nicht aus dem Lebensmittelrecht stammt. Es ergibt sich aus einer Entscheidung des BGH vom 17.01.1984 (VersR 1984 S. 270). Sie bezog sich auf einen Meisel, der mit einem Konstruktionsfehler behaftet war. Schutzgesetz war § 2 Abs. 1 Satz 1 Gerätesicherungsstellungsgesetz. Der BGH bejahte unter Bezugnahme auf die DIN 6453 eine Fahrlässigkeit des Herstellers mit folgender Begründung, die durchaus auch auf die "Quasi-Gesetzgebung" des Lebensmittelrechts übertragen werden kann:

 

            Die DIN 6453 hat freilich, wie alle von dem Deutschen Institut für Normung e. V.             herausgegebenen Normen, nur empfehlenden Charakter und ist nur eine der möglichen             Erkenntnisquellen für technisch ordnungsgemäßes Verhalten. Sie gibt aber den   technischen Erkenntnisstand und die Erfahrungen der an der Fassung beteiligten        Fachleute wieder. Wenn nach diesem Erkenntnisstand ein Härtegrad von 46 HRC nicht   überschritten werden soll, so widersprechen jedenfalls so deutlich höhere Werte, wie    sie hier ermittelt worden sind, den allgemein anerkannten Regeln der Technik.

 

Auch die Haftung bei unerlaubten Handlungen im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB setzt voraus, daß der Verpflichtete schuldhaft, also vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat. Darauf muß hier aber nicht näher eingegangen werden, weil im Prinzip dasselbe gilt, wie schon zu § 823 Abs. 1 BGB. ausgeführt.

 

4. Vertragsrecht

 

Aus den bisherigen Darlegungen ergibt sich die - an sich selbstverständliche - Feststellung, daß die lebensmittelrechtliche "Quasi-Gesetzgebung" immer dann Einfluß gewinnen kann, wenn entweder in dem Tatbestand ausdrücklich auf die Verkehrsauffassung abgestellt wird oder wenn dies durch einzelne Tatbestandsmerkmale indirekt geschieht.

 

Dies gilt deshalb auch für das Vertragsrecht. Es muß also ermittelt werden, ob durch eine solche direkte oder indirekte Bezugnahme auf die Verkehrsauffassung bzw. Verbraucherer- wartung die "Quasi-Gesetzgebung" auch dort von Bedeutung ist.

 

Bevor darauf näher eingegangen wird, ist daran zu erinnern, daß zwischen dem gesetzlichen Produkthaftungsrecht und der vertraglichen Produkthaftung ein wesentlicher Unterschied besteht; während im gesetzlichen Produkthaftungsrecht Rechte und Pflichten ausschließlich durch die gesetzlichen Vorschriften begründet werden, gibt es im Vertragsrecht zwei Rechts- quellen, nämlich

 

            die vertraglichen Vereinbarungen, die nur im Verhältnis zwischen den Ver-         tragsparteien maßgebend sind und

           

die vertragsrechtlichen Gesetzesbestimmungen.

 

4.1 Vertragliche Vereinbarungen

 

Es liegt auf der Hand, daß durch vertragliche Vereinbarungen Rechte und Pflichten, die mit denen der "Quasi-Gesetzgebung" ganz oder nahezu identisch sind, beliebig bestimmt werden können. Diese Bestimmung wird lediglich durch die zwingenden gesetzlichen Vorschriften einschließlich der Vorschriften des AGB-Gesetzes eingeschränkt. Trotz dieser Einschränkung bleibt aber ein unübersehbarer Raum für an der "Quasi-Gesetzgebung" orientierte Verein- barungen

 

Dabei können sowohl einzelne Bestimmungen aus einer "Quasi-Gesetzgebung" als auch eine  vollständige Regelung durch Vereinbarung in die vertraglichen Rechte und Pflichten ein- bezogen werden. In der Praxis ist das bedeutendste Beispiel, allerdings außerhalb des Lebens- mittelrechts, die Einbeziehung der Verdingungsordnung für Bauleistungen (vgl. z.B. OLG Köln, NJW-RR 94, 1431). Sie wird nach der Rechtsprechung nur dann Vertragsbestandteil, wenn dies vereinbart wurde, wobei der öffentliche Auftraggeber allerdings dazu verpflichtet  ist. Vielfach werden aber auch nur einzelne Bestimmungen einbezogen oder auch umgekehrt ausgeklammert, z.B. die Gewährleistungsregelung der VOB durch die des BGB ersetzt.

 

Die Bedeutung der "Quasi-Gesetzgebung" im Rahmen vertraglicher Vereinbarungen be- schränkt sich allerdings nicht auf den Fall der Einbeziehung durch ausdrückliche Verein- barungen. Sie kann stillschweigend einbezogen sein oder lediglich bei der Auslegung der vertraglichen Vereinbarungen zu berücksichtigen sein.

 

So ist es naheliegend, daß bei Qualitätssicherungsvereinbarungen zwischen dem Zutatenliefe- ranten und dem Weiterverarbeiter stillschweigend z.B. Herstellerrichtlinien oder auch die Leitsätze im Deutschen Lebensmittelbuch vereinbart werden und deshalb bei der Auslegung zu berücksichtigen sind (vgl. Schmidt NJW 91, 144). Bei Verträgen zwischen Kaufleuten gehört die "Quasi-Gesetzgebung" in der Regel zum Handelsbrauch, der gemäß § 346 HGB zu berücksichtigen ist.

 

Aber auch in dem Kaufvertrag des Endverbrauchers mit dem Lebensmittelhändler sind untergesetzliche Normen von erheblicher Bedeutung, weil sie in der Regel stillschweigend vereinbart werden. Verkauft z.B. ein Metzger ein Wursterzeugnis, ist stillschweigender Bestandteil des Kaufvertrages, daß dieses Erzeugnis den einschlägigen Anforderungen, mithin auch den Leitsätzen für Fleisch und Fleischerzeugnisse entspricht.

 

Dies überschneidet sich allerdings bereits mit den gesetzlich bestimmten Vertragsrechten und -pflichten, die nachfolgend behandelt werden.

 

4.2 Diese Darstellung soll jedoch auf die Bedeutung der "Quasi-Gesetzgebung" für das Vor-liegen eines Mangels im Sinne des Kaufrechts beschränkt werden. Das soll erlauben, die rechtlichen Kriterien etwas näher zu behandeln.

 

Zunächst ist allerdings festzuhalten, daß ein Mangel - oder auch Fehler - im Kaufrecht systematisch etwas anderes ist, als der Fehler des ProdukthaftungsG. Gegenstand von Ver- trägen ist der Austausch von Leistungen, z.B. die Lieferung eines Lebensmittels und dessen Bezahlung. Ein Mangel liegt deshalb vor, wenn die tatsächlich erbrachte Leistung nicht dem entspricht, wozu sich die Vertragsparteien verpflichtet haben. Maßstab für die ordnungs- gemäße Erfüllung ist allein der Inhalt der vertraglichen Verpflichtungen. Das kann für das Produkthaftungsrecht nicht gelten, weil es völlig unabhängig von vertraglichen Beziehungen ist. Deshalb sind dort, wie wir gesehen haben, Maßstab für das Vorliegen eines Fehlers objektivierte Kriterien, zu denen auch die "Quasi-Gesetzgebung" gehört.

 

Das deutet daraufhin, daß im Vertragsrecht, weil auf individuellen Vereinbarungen basierend, die "Quasi-Gesetzgebung" keinen Platz hat. Dieser Eindruck ist jedoch nicht richtig (Lehmann NJW 92, 1721, 1725).

 

Rechtsgrundlage der Haftung des Verkäufers und damit auch des Herstellers für Mängel ist
§ 459 Abs. 1 BGB. Nach ihrem Wortlaut setzt diese Vorschrift voraus,

 

            daß die verkaufte Sache mit einem Fehler behaftet ist,

           

            der

                        den Wert der Sache oder

                        die Tauglichkeit der Sache zu dem gewöhnlichen Gebrauch oder

                        die Tauglichkeit der Sache zu dem nach dem Vertrag vorausgesetzten                              Gebrauch

           

            aufhebt oder mindert.

 

Diese Zergliederung des Tatbestandes zeigt, daß die al1gemeine Verkehrsauffassung - und damit auch unsere "Quasi-Gesetzgebung" - in ganz unterschiedlicher Beziehung maßgebend sein kann.

 

Sie kann herangezogen werden zur Beantwortung der Frage, ob ein Fehler vorliegt.

 

Die allgemeine Verkehrsauffassung kann aber ebenso maßgebend dafür sein, ob der Wert einer fehlerhaften Sache oder deren Tauglichkeit für den gewöhnlichen Gebrauch aufgehoben oder gemindert ist. Denn Wert und Tauglichkeit zum gewöhnlichen Gebrauch können gleichermaßen nach den subjektiven Vorstellungen der Vertragsparteien als auch nach allgemeinen Kriterien, die sich aus der allgemeinen Verkehrsauffassung ergeben, bestimmt werden.

 

Auch für die Frage, ob die Tauglichkeit einer fehlerhaften Sache zu dem vertraglich vor-ausgesetzten Gebrauch aufgehoben oder gemindert ist, kann die allgemeine Verkehrsauf- fassung von Bedeutung sein. Das Tatbestandsmerkmal "zu dem nach dem Vertrag vorausge- setzten Gebrauch" deutet zwar darauf hin, daß hier die Vorstellungen der Vertragsparteien maßgebend sind; es wird jedoch in der Literatur auch die Ansicht vertreten (Köhler, DB 1985,215; Lindacher, NJW 85,2933), daß einseitige Erwartungen der Käuferseite in den nach dem Vertrag vorausgesetzten Gebrauch eingehen und dafür bestimmend sind.

 

Nach meiner Ansicht hat das Wort Fehler in dem Tatbestand des § 459 BGB keine inhaltliche Bedeutung, so daß es auch für die "Quasi-Gesetzgebung" keine Öffnung gibt.

 

Diese Auffassung steht allerdings in schroffem Gegensatz zu der Literatur und Rechtspre- chung seit dem Inkrattreten des BGB. Dort fand und findet ein ständiger Kampf zwischen einer objektiven Interpretation des Fehlerbegriffes einerseits und einer subjektiven Inter- pretation andererseits sowie einer subjektiv-objektiven Theorie statt, der schon kurze Zeit nach dem Inkrafttreten des BGB begonnen hat und bis heute nicht ausgestanden ist. Dabei stellt die objektive Theorie auf den normalen Zustand der Sache ab; das würde hier bedeuten, daß die "Quasi-Gesetzgebung", die ja diesen normalen Zustand fixieren will, für den Fehler- begriff maßgebend ist. Dagegen beziehen sich die subjektiven Theorien zumindest in erster Linie auf den von den Vertragsparteien gemeinsam vorausgesetzten Vertragszweck; dies schließt allgemeine Regelungen, wie sie die "Quasi-Gesetzgebung" darstellt, aus.

 

Nach meiner Auffassung kommt es auf diese Theorien bei der Bestimmung des Fehlerbegriffs nicht an, weil sich der Inhalt der Gewährleistungsverpflichtung und damit auch der Fehler- begriff aus dem zweiten Satzteil des § 459 Abs. 1 BGB ergibt, nämlich der Formulierung "die den Wert oder die Tauglichkeit zu dem gewöhnlichen oder dem nach dem Vertrag vorausgesetzten Gebrauch aufheben oder mindern". Danach kann sich ein Mangel sowohl aus den gemeinsamen subjektiven Vorstellungen der Vertragsparteien als auch aus Anforderungen allgemeiner Art ergeben. Das Wort Fehler in dem Tatbestand des § 459 bezeichnet damit allein den Rahmen für die Gewährleistungsansprüche des § 459 BGB; der Inhalt des Fehlerbegriffs ergibt sich aus der anschließenden, gerade zitierten Formulierung.

 

Leider ist hier nicht der Platz, diese Ansicht näher zu begründen. Einige historische Fest- stellungen sind jedoch zweckmäßig, weil sie auch für unser Thema Bedeutung haben.

 

In der Kommentierung des BGB aus dem Jahre 1902 definiert Crome den Begriff des Fehlers wie folgt:

 

            Was Fehler sind, wird durch die Verkehrsauffassung bezeichnet. Doch kommt nicht       bloß die allgemeine, schablonenmäßige Auffassung in Betracht, sondern ebenso sehr        die konkrete aufgrund der besonderen im Vertrag zutage getretenen Intentionen der   Parteien.

 

Das ist nichts anderes, als die in den letzten Jahren entwickelte subjektiv-objektive Begriffs- bestimmung des Fehlers, die sich damit keineswegs als eine neuartige Theorie erweist. Bemerkenswert ist aber, daß auch Crome praktisch nur die Formulierung wiederholt, die dem

Wort Fehler in § 459 Abs. 1 nachgeordnet ist, mithin gleichfalls im Ergebnis dem Begriff Fehler keine eigenständige Bedeutung zuordnet.

 

Die Entwicklung zum rein subjektiven Fehlerbegriff zeigt sich in einem Beispiel aus dem Lehrbuch von Dernburg zu den Schuldverhältnissen aus dem Jahre 1906 (3. Auflage):

 

            Wird z.B. ein Gartengrundstück nach den Vertragsabreden, wie sie sich auch im Preise aussprechen können, als Baugrundstück erworben, so liegt in dem außergewöhnlich    unsicheren Baugrund ein Fehler. Wenn jenes Grundstück bloß behufs einer    Handelsgärtnerei erworben wurde, wird hierauf nichts ankommen.

 

Zur Stützung der von mir vertretenen Auffassung möchte ich mich noch auf Plank in der 4. Auflage seiner Kommentierung des BGB aus dem Jahre 1928 berufen; er führt aus, der Käufer müsse sich

 

            darauf verlassen können, daß ihm die Sache in einer Beschaffenheit geliefert wird, die   ihr normalen Wert verleiht und sie zu dem gewöhnlichen Gebrauch, falls aber nach       dem Vertrag ein bestimmter Gebrauch vorausgesetzt ist, zu diesem tauglich macht.

 

Aus diesen - in gleichem Sinn beliebig vermehrbaren - Zitaten und meiner Auffassung, daß der Begriff Fehler in § 459 BGB keinen eigenen materiellen Inhalt hat, ergeben sich zwei wichtige Schlußfolgerungen:

 

Einseitige Erwartungen einer Vertragspartei haben für die Feststellung eines Mangels keine Bedeutung; denn ein nach dem Vertrag vorausgesetzter Gebrauch besteht nur, wenn es sich um gemeinsame Erwartungen beider Vertragsparteien handelt (Metzger in BGB-RGRK § 459 Rdn. 19). Die von Köhler (DB 1985,215) und Lindacher (NJW 1985,29,33; a.a.O. Meyer BB 1987, 287) vertretene Auffassung, die Erwartung des Verbrauchers zum Ablauf der Mindesthaltbarkeit sei für die Feststellung eines Mangels maßgebend, kann ich deshalb nach wie vor nicht teilen (ebenso Westermann in Münchener Kommentar § 459 Rdn. 12 und die dort zitierte Rechtsprechung und Literatur).

 

Für den Begriff des Mangels sind sowohl die gemeinsamen Vorstellungen der Vertragsparteien als auch der gewöhnliche Gebrauch, d.h. die Verkehrsauffassung maßgebend.

 

Das zwingt zu der Beantwortung der Frage, in welchem Rangverhältnis diese beiden Kriterien stehen. Denn es ist schwer denkbar, daß eine bestimmte Eigenschaft von Lebensmitteln

 

            nach den gemeinsamen Vorstellungen der Vertragsparteien ein Mangel ist,

           

            nach allgemeiner Verkehrsauffassung aber nicht.

 

Leider kann auch diese Frage hier nicht näher untersucht, sondern lediglich nachfolgend zugrunde gelegt werden, daß die gemeinsamen Vorstellungen der Vertragsparteien immer vorrangig sind, mithin auf die allgemeine Verkehrsauffassung nur dann zurückgegriffen werden kann, wenn gemeinsame Vorstellungen der Vertragsparteien nicht feststellbar sind (OLG München, NJW-RR 92,1523 sowie Westermann in Münchener Kommentar § 459 Rdn. 9 und Plank a.a.O.). Dabei dürfen allerdings in die vertraglichen Vereinbarungen solche gemeinsamen Vorstellungen der Vertragsparteien nicht zwangsweise hineininterpretiert werden; generell ist vielmehr davon auszugehen, daß die Vertragsparteien eine den allgemei- nen Anforderungen, mithin auch eine den Anforderungen der "Quasi-Gesetzgebung" ent- sprechende Fehlerfreiheit zugrundelegen.

 

Dem Tor, durch das die lebensmittelrechtliche "Quasi-Gesetzgebung" in die vertraglichen Beziehungen des Privatrechts eintreten kann, ist mithin ein Filter vorgeschaltet, bestehend aus den gemeinsamen Vorstellungen der Vertragsparteien. Hat die "Quasi-Gesetzgebung" diesen Filter passiert, kann sie erheblichen Einfluß auf die Beantwortung der Frage gewinnen, ob ein Lebensmittel, kosmetisches Mittel, Tabakerzeugnis oder Bedarfsgegenstand im Rahmen des Vertragsrechts mangelhaft ist oder nicht (vgl. Marburger a.a.O. S. 503).

 

Um dazu einige Beispiele aus der Rechtsprechung zu geben, muß wieder auf Beispiele außerhalb des Lebensmittelrechts ausgewichen werden, weil Beispiele für die Anwendung lebensmittelrechtlicher "Quasi-Gesetzgebung" nicht ausfindig gemacht werden konnten.

 

Auf Lebensmittel, nämlich Freibankfleisch, bezieht sich allerdings eine Entscheidung des BGH vom 10.03.1988 (NJW-RR 88, 1068); diese Entscheidung zu den Leitsätzen für Fleisch und Fleischerzeugnisse betrifft jedoch das Wettbewerbsrecht, so daß sie hier nicht hingehört.

 

Aus dem Gerätesicherheitsrecht gibt es eine Entscheidung des BGH vom 16.01.1985 (NJW 85, 1769), in der ein Sachmangel im Sinne von § 459 Abs. 1 BGB mit Bezugnahme auf VDE-Bestimmungen beurteilt wird. Da auch die VDE-Bestimmungen untergesetzliche Normen sind, belegt diese Entscheidung die Berücksichtigung der "Quasi-Gesetzgebung" bei der Feststellung eines Fehlers im Sinne von § 459 Abs. 1 BGB.

 

Eine Entscheidung des OLG Saarbrücken (NJW 93, 3077), die sich ebenfalls auf die VDE- Bestimmungen stützt, zeigt auf, daß diese "Quasi-Gesetzgebung" nicht nur im Kaufvertrags- recht, sondern auch bei anderen vertraglichen Beziehungen maßgebend sein kann. Denn in dieser Entscheidung wird aus den VDE-Bestimmungen eine Verpflichtung des Vermieters zur Überprüfung der elektrischen Anlage in vermieteten Räumen entnommen.

 

In umfassender Weise hat die "Quasi-Gesetzgebung" in der Form von DIN-Normen für einen anderen Vertragstyp, nämlich den Werkvertrag Bedeutung erlangt. Auch dort geht es jeweils um die Frage, ob eine Leistung fehlerhaft ist. Obergerichtliche Entscheidungen liegen beispielsweise vor zur Anwendung der DIN 4109 beim Schallschutz (OLG Düsseldorf RR 94,88; RR 94, 341; RR 94, 1046). Das OLG Celle stellt in einer Entscheidung vom 19.07.1990 (NJW-RR 91, 1175) auf die DIN 4108 mit Anforderungen an die Wärmedämmung ab. Die DIN 18064, 18065 wird für Anforderungen an die Beschaffenheit von Treppen von dem OLG Hamm in zwei Entscheidungen(NJW-RR 96, 213 und NJW-RR 95, 17) herangezogen.


 

In einer Entscheidung vom 08.02.1991 (NJW-RR 91,1045) bezog sich das OLG Hamm zur Bestimmung der Pflichten des Bauleiters bei der Überwachung auf ein Merkblatt "Keramische Fliesen". Diese Entscheidung ist hier bedeutsam, weil es sich um eine Anweisung handelt, die nicht von allen Verkehrskreisen, sondern nur von dem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes erarbeitet wurde; dies belegt, daß auch im Lebensmittelrecht u. U nur von den Herstellern erarbeitete Richtlinien, insbesondere natürlich die vom Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde herausgegebenen Richtlinien und Begriffsbestimmungen als "Quasi-Gesetzgebung" Bedeutung haben können.

 

Als Zwischenergebnis ist hiernach festzuhalten, daß die lebensmittelrechtliche "Quasi-Gesetzgebung", wenn dies die vorrangigen Parteivereinbarungen zulassen, in folgenden drei Fällen für die Beurteilung eines Mangels maßgebend sein kann:

 

      Die Vertragsparteien haben sich auf eine durch untergesetzliche Normen definierte         Gattung bezogen; Beispiel ist der Verkauf von Schinken mit ausdrücklicher         Bezugnahme auf Ziffer 2.411 der Leitsätze für Fleisch und Fleischerzeugnisse

 

      Die Vertragsparteien haben stillschweigend auf eine untergesetzliche Regelung Bezug    genommen; Beispiel: Der Roggenanteil eines Roggenbrotes muß Ziffer 11.3 der Leitsätze            für Brot und Backwaren entsprechen.

 

      Untergesetzliche Normen werden zur Bestimmung des gewöhnlichen Gebrauchs            herangezogen, weil bzw. soweit den vertraglichen Vereinbarungen nichts zu entnehmen       ist; Beispiel: Der Anteil an bindegewebsfreiem Fleischeiweiß muß entsprechend Ziffer     2.211.03 der Leitsätze für Fleisch und Fleischerzeugnisse mindestens 13,5  betragen; der         Madenbefall muß bei Pilzen Ziffer 11 2.1 der Leitsätze für Pilze entsprechen.

 

Ebenso wie im Rahmen der Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz und bei der Haftung nach § 823 Abs. 1 und Abs. 2 BGB stellt sich auch bei der vertraglichen Haftung die Frage, ob regionale Besonderheiten oder Erwartungen einzelner Verbrauchergruppen im Rahmen des Mangelbegriffs zu berücksichtigen sind.

 

Die Frage läßt sich, ebenso wie bei der Produkthaftung nach dem ProdukthaftungsG, nicht ohne weiteres beantworten. Denn die EG-rechtliche Vorgabe durch eine Richtlinie fehlt im

Vertragsrecht ebenso, wie die zwingende Begrenzung auf die Allgemeinheit.

 

Das ergibt sich nach meiner Ansicht daraus, daß die individuellen gemeinsamen Vorstellun- gen der Vertragsparteien durchaus eine Begrenzung auf bestimmte Regionen oder Verbrau- chergruppen geben können und daß wegen ihrer Vorrangigkeit dies auch zu beachten ist.

 

Das einfachste Beispiel dafür ergibt sich aus dem Lebensmittelrecht selbst. Der Verkäufer von diätetischen Lebensmitteln für besondere Verwendungszwecke liefert zweifellos mangelhaft, wenn das Lebensmittel diesem diätetischen Verwendungszweck nicht entspricht. Die Vorstellung beider Vertragsparteien engt durch die Bezeichnung als diätetisches Lebensmittel den Kreis der Vertragspartner ein und dies ergibt zwangsläufig, daß dadurch auch eine eingeschränkte Verkehrsauffassung, oder, um den Wortlaut des § 459 BGB zu verwenden, die Tauglichkeit zu dem nach dem Vertrag vorausgesetzten Gebrauch berührt wird.

 

Dies kann sich auch keineswegs auf Vorschriften in Gesetzen und Verordnungen beschränken. Vielmehr kann auf diese Weise auch die "Quasi-Gesetzgebung" Einfluß gewinnen. Es ist z.B. denkbar, daß Leitsätze für Lebensmittel entwickelt werden, die für bestimmte Allergiker in Verkehr gebracht werden; in diesem Fall hätten diese Leitsätze zweifellos erhebliche Bedeutung für die Beantwortung der Frage, ob ein solches Lebensmittel mangelhaft ist oder nicht

 

Unwahrscheinlicher ist es allerdings, daß regional begrenzte "Quasi-Gesetzgebung" im Vertragsrecht Bedeutung gewinnen kann. Zwar ist es denkbar zu argumentieren, daß im Raum des Oberlandesgerichts Koblenz vertriebene Lebensmittel bestimmten, dort entwickel- ten Regeln der "Quasi-Gesetzgebung" entsprechen müssen, während das in anderen Ober- landesgerichtsbezirken nicht der Fall ist. Es ist ja im Lebensmittelrecht anerkannt, daß einzelne Oberlandesgerichte in lebensmittelrechtlichen Straf- und Bußgeldverfahren regionale Verkehrsauffassungen heranziehen, die eventuell auch in entsprechenden Werken festgehalten sind. Ich bin allerdings der Meinung, daß der Mangelbegriff des Vertragsrechts dadurch allenfalls in Ausnahmefällen berührt werden kann.

 

Zum Abschluß des Kapitels Vertragsrecht ist noch auf eine Entscheidung des BGH vom 8.3.1995 (NJW 95, 2099) hinzuweisen. Diese Entscheidung bezieht sich allerdings nicht auf das nationale Vertragsrecht, sondern auf die Vertragsmäßigkeit einer Ware nach UN- Kaufrecht. Gegenstand der Entscheidung war ein Schadensersatzanspruch eines Fischimpor- teurs gegen einen in der Schweiz ansässigen Lieferanten von neuseeländischen Muscheln. Bei diesen Muscheln war der in Richtlinien des Bundesgesundheitsamtes für Cadmium angegebene Richtwert erheblich überschritten. Daß diese Richtlinien zu unserer "Quasi-Gesetzgebung" gehören, bedarf keiner näheren Begründung. Der BGH hat ihnen sogar einen besonderen Status verliehen, indem er sie als öffentlichrechtliche Vorgaben bezeichnete. Trotzdem verneinte er eine Beurteilung der Vertragsmäßigkeit nach diesen Richtlinien, weil die Einhaltung solcher öffentlich rechtlicher Vorgaben im Käufer- oder Verwendungsstaat von dem Verkäufer grundsätzlich nicht erwartet werden könne. Damit hat der BGH im Rahmen des UN-Kaufrechts unserer "Quasi-Gesetzgebung" eine eindeutige Abfuhr erteilt. Dies ist für die Praxis von erheblicher Bedeutung und deshalb ist auf diese Entscheidung hinzuweisen. Die Praxis wird dadurch genötigt, in ihren Kontrakten mit ausländischen Lieferanten die Anwendung der - um die Wortwahl des BGH zu verwenden - öffentlichrechtlichen Vorgaben in Deutschland, also der "Quasi-Gesetzgebung" definitiv zu vereinbaren. Dabei reichen bei einer vorsichtigen Handhabung allgemeine Formulierungen nicht aus. Es sollten die einzelnen Regelungswerke, also z.B. die Leitsätze im deutschen Lebensmittelbuch oder auch Richtwerte des Bundesgesundheitsamtes definitiv in dem Kontrakt bezeichnet werden.

 

5. Zusammenfassung

 

Im Unterschied zum öffentlichen Recht, zu dem auch das Lebensmittelrecht gehört, beruht das Privatrecht auf der Gleichrangigkeit der Träger von Rechten und Pflichten, der Personen. Begründet werden diese Rechte und Pflichten durch gesetzliche Vorschriften sowie - im Vertragsrecht - durch Vereinbarungen. Die lebensmittelrechtliche "Quasi-Gesetzgebung", also alle Regelungswerke ohne Gesetzes- oder von Gesetzen abgeleitetem Rang, haben deshalb im Privatrecht nur dann Bedeutung, wenn die gesetzlichen Vorschrift oder vertraglichen Vereinbarungen dafür Öffnungen enthalten.

 

Im Haftungsrecht des Produkthaftungsgesetzes befinden sich solche Öffnungen insbesondere in dem Begriffsmerkmal "Sicherheit, die berechtigterweise erwartet werden kann" des Fehlerbegriffs in § 3 ProdukthaftungsG. Zur Auslegung dieses Begriffsmerkmals ist auf die weitgehend übereinstimmenden Vorstellungen der Allgemeinheit abzustellen, bei deren Ermittlung auch die lebensmittelrechtliche "Quasi-Gesetzgebung" von Bedeutung sein kann. Dabei sind vorrangig europäische Regelungswerke; die Berücksichtigung nationaler "Quasi- Gesetzgebung" setzt voraus, daß in anderen Ländern der Gemeinschaft keine ähnlichen Regelungswerke entgegenstehen.

 

Im Schadensrecht der §§ 823 ff BGB hat die lebensmittelrechtliche "Quasi-Gesetzgebung" insbesondere Bedeutung für das Tatbestandsmerkmal "widerrechtlich" in § 823 Abs. 1. In § 823 Abs. 2 BGB kann die lebensmittelrechtliche "Quasi-Gesetzgebung" über Schutzgesetze, z.B. § 8 LMBG, von Bedeutung sein; die Anerkennung des Irreführungsverbotes gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG als Schutzgesetz und damit die Einbeziehung der lebensmittelrechtlichen Verbrauchererwartung zu der Beschaffenheit und Aufmachung von Lebensmitteln erscheint allerdings nicht vertretbar. Dagegen sind die im Lebensmittelrecht entwickelten allgemeinen Sorgfaltspflichten auch bei der Prüfung der Fahrlässigkeit im Recht der unerlaubten Handlung erheblich; in der gerichtlichen Praxis, zumindet der Obergerichte, läßt sich dies allerdings nicht feststellen.

 

In vertragliche Vereinbarungen kann die lebensmittelrechtliche "Quasi-Gesetzgebung" in fast unbeschränkten Umfang durch Vereinbarung der Vertragsparteien einbezogen werden. Sie hat aber auch erhebliche Bedeutung für die Beantwortung der Frage, ob ein Mangel im Sinne des § 459 Abs. 1 BGB vorliegt. Das gleiche gilt für Gewährleistungsansprüche anderer Vertragstypen, z.B. des Werkvertrags. Offen bleibt, inwieweit die lebensmittelrechtliche "Quasi-Gesetzgebung" in anderen Bereichen des Privatrechts, z.B. Amtshaftung, andere vertragliche Leistungsstörungen als Schlechtlieferung, Besonderheiten der Verkehrssicherungspflichten im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB sowie Anwendung interner Verwaltungsvorschriften zur Konkretisierung gesetzlicher Vorschriften Bedeutung hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

    

 

Rechtsanwalt Kurt-Dietrich Rathke

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