Die gute Herstellungspraxis

Das Irreführungsverbot im Lebensmittelrecht

 

 

Mein Referat besteht im wesentlichen aus zwei Teilen, zunächst eine mehr systematische Darstellung und daran anschließend die Darstellung einiger spezieller Gesichtspunkte. Am Schluss werde ich kurz auf die einschlägigen Vorschriften hinweisen.

 

(1. Der Begriff Irreführung)

 

(1.1 Systematik des Begriffes)

 

Ich beginne zur Definition des Begriffes Irreführung mit einem zusammenfassenden  und etwas gekürzten Zitat aus einem Kommentar:

 

Irreführende Bezeichnungen, Angaben oder Aufmachungen bei Lebensmitteln liegen dann vor, wenn diese geeignet sind, die Abnehmer darüber zu täuschen, was wirklich unter diesen Bezeichnungen usw. vertrieben wird. Soweit nicht Rechtssätze oder Treu und Glauben entsprechende Handelsgebräuche vorliegen, ist diejenige Beschaffenheit maßgebend, welche das in Betracht kommende Publikum nach der Verkehrsanschauung erwarten darf. Wo die Verkehrsauffassung die maßgebende Norm ist, sind entscheidend die Anschauungen des Durchschnittspublikums.

 

Dieses Zitat habe ich nicht aus einem der heutigen Kommentare entnommen; entnommen sind die Sätze aus der 2. Auflage des ersten deutschen Kommentars zum Lebensmittelrecht von Holfthöfer und Juckenack, die 1933 erschien. Mit diesem Zitat möchte ich belegen, dass sich die Grundkonzeption des lebensmittelrechtlichen Verbotes der Irreführung seitdem nicht geändert hat. Maßgebend ist heute wie damals ein Vergleich zwischen

 

-  der tatsächlichen Beschaffenheit des Lebensmittels und

 

-  der Beschaffenheit nach der Verkehrsauffassung, den Anschauungen des Durchschnittspublikums.

 

Stimmen diese beiden Kriterien nicht überein und ist dies rechtlich relevant, liegt eine Irreführung vor.

 

Inhaltlich haben sich die Verhältnisse in den 80 Jahren seit Erscheinen dieses Kommentars allerdings erheblich geändert.

 

Das gilt zunächst für die Feststellung der tatsächlichen Beschaffenheit des Lebensmittels durch den enormen Fortschritt der Analysenmethoden; sie ermöglichen heute Feststellungen, die seinerzeit noch nicht einmal denkbar waren. Darauf kann ich hier nicht näher eingehen, aber ich muss doch darauf hinweisen, dass parallel zu der enormen Zunahme analytischer Möglichkeiten auch die Erwartungen der Verbraucher erheblich zugenommen haben. Vor 80 Jahren hätte z.B. niemand erwartet, dass ein Keks frei von Acrylamid ist.

 

Ich halte das für einen sehr wesentlichen Umstand für das heutige Verständnis des Irreführungsverbotes.

 

Auch die Bezugnahme auf die Verkehrsauffassung, also die Anschauungen des Durchschnittspublikums in dem seinerzeitigen Sprachgebrauch, hat sich in diesen Jahren  erheblich geändert. In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren für die Verkehrsauffassung, soweit nicht Rechtsvorschriften bestanden, vorrangig die redlichen Handelsbräuche maßgebend, die vielfach in nicht gesetzlichen Normen niedergelegt waren. Das Verbraucherleitbild der damaligen Zeit war also der normierte Verbraucher. An seine Stelle trat dann in den Kriegsjahren der hungernde Verbraucher. Als es uns wieder gut ging, wurde er durch den flüchtigen Verbraucher abgelöst, bis im Schlepptau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der aufmerksame und mündige Verbraucher auf der lebensmittelrechtlichen Bildfläche erschien. Er ist jetzt das Leitbild, an dem gemessen werden soll, ob eine Angabe irreführend ist oder nicht.

 

Ich habe diese Entwicklung kurz dargestellt, um deutlich zu machen, dass die Verkehrsauffassung und damit auch das Verbraucherleitbild kein statisches Gebilde, sondern offenkundig von den politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen abhängig ist.

 

Mit der Bezeichnung Leitbild hat die Verkehrsauffassung bzw. Verbrauchererwartung allerdings auch – fast unbemerkt - eine rechtliche Metamorphose erlebt. Ein Leitbild ist nämlich eine rechtliche Vorstellung und keine Tatsache, die Gegenstand der Beweisaufnahme sein müsste; eine Beweisaufnahme kommt deshalb nach der Rechtsprechung des EuGH nur in Betracht, wenn das nationale Gericht besondere Schwierigkeiten hat zu beurteilen, ob eine Angabe irreführend ist.

 

Gestatten Sie mir, dies kurz rechtsmethodisch zu untermauern:

 

Im Unterschied zu den Naturwissenschaften ist die Rechtswissenschaft bekanntlich keine exakte Wissenschaft. Sie ist nicht in der Lage, aus abstrakten Gesetzen oder Begriffen allein durch logische Operationen deduktiv die ungeheure Vielfalt der Sachverhalte des Lebens zu beurteilen. Sie bedarf dazu wertender Kriterien, die, wie die Entwicklung des Verbraucherleitbildes schon gezeigt hat, den politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen entsprechen müssen.

 

Gegenstand dieser Wertungen sind nach heutigem Verständnis der so genannten Wertungsjurisprudenz die Interessen der Personen, die durch die Rechtsvorschrift oder ihre Anwendung betroffen sind. Das sind im Lebensmittelrecht vorrangig die Interessen der Verbraucher, darüber hinaus aber auch  die vom Verbrauch unabhängigen Interessen der Allgemeinheit und – entgegen einer teilweise radikal vertretenen Auffassung – die Interessen der Hersteller und Vertreiber andererseits. Diese Interessenssphären sind allerdings keineswegs in sich homogen: dies zeigt am besten die Unterscheidung zwischen flüchtigen und aufmerksamen Verbrauchern; während der flüchtige Verbraucher – so die traditionelle Rechtsprechung in Deutschland – im wesentlichen nur erwartet, dass die Lebensmittel entsprechend den einschlägigen Vorschriften hergestellt werden, geht das Informationsinteresse des aufmerksamen Verbrauchers meist sehr viel weiter.

 

Daraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen:

 

a) Dieser Verbraucherschutz, und mit dieser Auffassung rufe ich ziemlich sicher heftigen Widerspruch hervor, ist hiernach nicht identisch mit den Interessen der Verbraucher, sondern er ist im Sinne der Wertungsjurisprudenz das materielle Kriterium für die Abwägung von Interessen der Verbraucher mit Interessen der Allgemeinheit und der Wirtschaft. Es ist deshalb nach meiner Auffassung nicht richtig, wenn Verbraucherorganisationen für sich in Anspruch nehmen, den Verbraucherschutz zu vertreten. Sie vertreten die Verbraucherinteressen und es ist Sache des Gesetzgebers und der Gerichte, den Verbraucherschutz zu gewährleisten.

 

b) Der Verbraucherschutz ist als Kriterium der Wertung kein unveränderlicher, in sich logisch abgeschlossener Maßstab. Er ist nicht nur in zeitlicher Hinsicht Veränderungen unterworfen, sondern auch Veränderungen entsprechend den persönlichen Verhältnissen der Verbraucher und Verbrauchergruppen. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass es kein einheitliches Verbraucherleitbild geben kann. Deshalb ist es ebenso falsch, generell von einem flüchtigen Verbraucher auszugehen, wie generell das Leitbild eines aufmerksamen, womöglich geschulten Verbrauchers zugrunde zu legen. Darauf ist noch zurückzukommen.

 

Zunächst ist festzuhalten, dass diese beiden Schlussfolgerungen sowohl für die Rechtssetzung, also die Tätigkeit des Gesetz- und Verordnungsgebers, als auch für die Rechtsfindung, die richterliche Anwendung des lebensmittelrechtlichen Irreführungsverbotes auf den konkreten Sachverhalt, gelten.

 

1.2 (Die richterliche Tätigkeit)

 

Ich befasse mich zunächst - und hier auch hauptsächlich – mit der richterlichen Tätigkeit, der Rechtsfindung.

 

Dem Richter ist mit einem abstrakten Leitbild des Verbrauchers wenig gedient. Er muss im konkreten Fall feststellen, welche Erwartung der Verbraucher im konkreten Fall hat. Sein Ausgangspunkt ist also anstatt eines abstrakten Leitbildes der Begriff berechtigte Verbrauchererwartung, der jahrzehntelang in Deutschland verwendet wurde. Denn dieser Begriff zeigt auf, dass es bei der Anwendung der Irreführungsverbote um  zwei Überlegungen geht, nämlich die Frage nach dem Inhalt der Verbrauchererwartung und deren Beurteilung als berechtigte Verbrauchererwartung.

 

Nun ist die Feststellung der Verbrauchererwartung, wie schon unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH deutlich gemacht, in der Regel keine Feststellung einer Tatsache. Und im Unterschied zum Wettbewerbsrecht, das sich auch heute noch mit komplizierten Meinungsbefragungen herum plagt, ist diese Feststellung im Lebensmittelrecht fast immer ohne Beweisaufnahme durchgeführt worden. Es wurde die Auffassung vertreten, dass der Richter, da er den Verkehrskreisen angehört, selbst in der Lage ist, die tatsächliche Verbrauchererwartung festzustellen. Das ist natürlich eine merkwürdige Fiktion und bestätigt, dass es sich bei der berechtigten Verbrauchererwartung um einen Rechtsbegriff handelt, der von dem Richter

 

-   entsprechend den rechtlichen, d.h. den gesetzlichen einschließlich verfassungsrechtlichen Vorgaben,

-   gegebenenfalls unter Berücksichtigung bereits ergangener Entscheidungen

-   sowie objektiver Feststellungen der Verbrauchererwartung jeder Art und letztlich

-   nach seiner eigenen Überzeugung

 

auszulegen ist. Zu diesem Vorgang im Einzelnen:

 

Vorrangig ist selbstverständlich immer die Fixierung der Verbrauchererwartung in Rechtsvorschriften. Wird zum Beispiel ein Wein als trocken ausgelobt, muss er den dafür bestehenden Vorschriften der Verordnung (EG) 607/2009 entsprechen, sein Zuckergehalt darf also nicht höher als 4 g bzw. in Kombination mit dem Gesamtsäuregehalt 9 g/Liter betragen. Ist das nicht der Fall, so ist die Angabe „trocken“ irreführend, es bedarf keiner weiteren Feststellungen zur Verbrauchererwartung. (Ich verwende dieses Beispiel, weil ich im Gegensatz zum LFGB Wein durchaus für ein Mittel zum Leben halte).

 

Fehlen entsprechende Rechtsvorschriften, ist zunächst einmal der allgemeine Sprachgebrauch maßgebend. Hierher gehört auch das Verständnis des Richters, allerdings nicht als Beweisperson, sondern als Teilnehmer an der sprachlichen Kommunikation. Wird auf einer Packung eine Zutat ausgelobt, die in dem Lebensmittel tatsächlich nicht enthalten ist, bedarf es keiner weiteren Überlegungen zur Verbrauchererwartung. Das gleiche gilt für die Aufmachung, insbesondere Abbildungen. Wird ein Käse in einer Packung vertrieben, auf der die Alpen abgebildet sind, ist diese Aufmachung irreführend, wenn der Käse tatsächlich aus Holland stammt.

 

Erst wenn das allgemeine Sprachverständnis bzw. das allgemeine Verständnis optischer Informationen kein eindeutiges Ergebnis liefern, kommen sonstige Hilfsmittel in Betracht.

 

Ein wichtiges Auslegungshilfsmittel zur Feststellung der Verbrauchererwartung sind dann in Deutschland die Leitsätze des Lebensmittelbuchs. Sie sind bekanntlich nicht verbindlich und haben auch den Nachteil, dass sie im Lebensmittelrecht der Union nicht die gleiche Bedeutung haben können, wie in Deutschland. Zwar ist für die Verkehrsauffassung in der Regel die Auffassung im Bestimmungsland maßgebend, zumindest für Ware aus anderen Mitgliedstaaten ist dies aber problematisch, wie Entscheidungen des EuGH, für den die Freiheit des Warenverkehrs in der Union eine Art Glaubensbekenntnis ist, gezeigt haben. Da zu den Leitsätzen nachher Frau Dr. Rehlender referiert, sind hier weitere Ausführungen nicht erforderlich.

 

Als Hilfsmittel für die Feststellung der Verbrauchererwartung wurden traditionsgemäß im deutschen Lebensmittelrecht auch aufgehobene Vorschriften herangezogen, wenn sie die Verbrauchererwartung geprägt haben, so dass die Verbrauchererwartung dem auch weiterhin entspricht. Das ist bei dem Tempo der Veränderungen des Lebensmittelmarktes aber allenfalls für traditionelle Lebensmittel noch vertretbar.

 

Das nächste Hilfsmittel sind die redlichen Handelsbräuche, die allerdings im Vergleich mit der Zeit vor 80 Jahren erheblich an Bedeutung verloren haben. Leitlinien und Richtlinien der Wirtschaftsverbände werden in der Öffentlichkeit argwöhnisch eingeschätzt. Ich will die Berechtigung solcher Auffassungen hier nicht kommentieren, sondern nur festhalten, dass die Richtlinien der Wirtschaft, insbesondere die des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde, als Mindestanforderung durchaus erhebliche Bedeutung haben können.

 

Das gilt insbesondere, wenn Richtlinien der Wirtschaft von behördlichen Gremien anerkannt werden. Solche behördlichen Gremien sind z.B. der Arbeitskreis lebensmittelchemischer Sachverständiger des Bundes und der Länder, abgekürzt ALS, sowie die Arbeitsgemeinschaft der leitenden Veterinärbeamten der Länder, abgekürzt ArgeVet.

 

Diese Gremien erarbeiten auch selbst Stellungnahmen unter Berücksichtigung von Feststellungen zur Verbrauchererwartung bzw. Verkehrsauffassung. Es handelt sich dabei an sich nur um behördeninterne Äußerungen, keineswegs um verbindliche Normen. Einwendungen können sich insbesondere aus rechtlicher Sicht ergeben. Von besonderer Bedeutung sind aber die Veröffentlichungen des ALS, wenn sie auf jahrelangen praktischen Erfahrungen beruhen, die durch statistisch erfasste oder aktenmäßig festgehaltene und (mit)veröffentlichte Reihenuntersuchungen untermauert sind.

 

Für zahlreiche, insbesondere zubereitete Lebensmittel gibt es Lehr- und Kochbücher, die Anhaltspunkte für die Verbrauchererwartung geben können. Allerdings ist zu beachten, dass Lehrbücher einen erzieherischen Zweck haben und Kochbücher nur Vorschläge enthalten.

 

In gleicher Weise skeptisch zu beurteilen sind Informationen, die in unübersehbarer Anzahl aus dem Internet gewonnen werden. Von dieser Möglichkeit machen jetzt auch die Gerichte Gebrauch und da habe ich nun doch beträchtliche Bedenken. Wer zum Beispiel bei Google nach der üblichen Zusammensetzung von Roggenbrot ermittelt, erhält nach 0,12 s ungefähr 380.000 Informationen. Es bleibt dem Zufall überlassen, ob daraus eine der Verbrauchererwartung entsprechende Information zu gewinnen ist.

 

Gibt der Richter ehrlich zu, dass er über die Zusammensetzung des Lebensmittels, zum Beispiel von Roggenbrot, keine eigenen Kenntnisse hat und verzichtet er auch darauf, die kenntnisreiche Auskunft seiner Frau beim Frühstück zur Verbrauchererwartung zu ernennen, wird er einen Sachverständigen hinzuziehen. Dessen Kenntnisse sind zwar sicher sehr viel mehr fundiert, jedoch nicht zwingend vollständig.

 

Spätestens in diesem Stadium der Entscheidungsfindung ist der Richter veranlasst, die Folgen seiner Entscheidung in seine Überlegung einzubeziehen, allerdings nicht beschränkt auf den konkreten Fall, sondern bezogen auf die Gesamtheit der Verbraucher bzw., wenn sich die Angabe oder Aufmachung an bestimmte Verbrauchergruppen wendet, auf diese Verbrauchergruppe bezogen. Bei dieser rechtlichen Prüfung sind insbesondere maßgebend

 

- die Folgen der Entscheidung für die Gesundheit der Verbraucher und

- die wirtschaftlichen Folgen für den Verbraucher,

 

darüber hinaus aber auch

 

- die Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit geeigneten Lebensmitteln (einschließ   lich – so Art. 8 der Verordnung (EG) 178/2002 – einer Vielfalt des Nahrungsmittelangebots), und

- der wirtschaftlichen Folgen für die Wirtschaft, also Agrarwirtschaft, Hersteller und Handel

 

Dazu zwei Anmerkungen:

 

a) Im Unterschied zur herrschenden Meinung im Wettbewerbsrecht vertrete ich für das Lebensmittelrecht die Auffassung, dass die Feststellung der berechtigten Verbrauchererwartung kein zweistufiges Verfahren ist, bestehend aus tatsächlichen Feststellungen und Prüfung der rechtlichen Relevanz. Da der Begriff irreführend ein Rechtsbegriff ist, kommt, wie schon ausgeführt, eine Beweisaufnahme nur ausnahmsweise in Betracht. Allerdings ergibt sich die berechtigte Verbrauchererwartung, wie gleichfalls schon ausgeführt, aus sehr unterschiedlichen Anhaltspunkten, deren Gewichtung sich gegenseitig beeinflussen kann. Ihre Feststellung erfordert deshalb, - in Anlehnung an ein von Engisch geprägtes Bild - ein Hin- und Herwandern des Blickes auf diese maßgebenden Anhaltspunkte.

 

b) Bei Angaben, die für die Gesundheit der Verbraucher relevant sind, ist es nach meiner Auffassung, die ich übrigens schon vertrete, seitdem der aufmerksame Verbraucher erschienen ist, nicht vertretbar, nur auf einen aufmerksamen und interessierten Verbraucher abzustellen. Denn das würde bedeuten, dass der flüchtige Verbraucher gesundheitliche Beeinträchtigungen der falschen Angaben schutzlos hinnehmen müsste.

 

Zwar bedürfen gesundheitsbezogene Angaben aufgrund der Verordnung (EG) 1924/2006 einer Zulassung und sie dürfen gemäß Art. 3 dieser Verordnung nicht irreführend sein. Damit ist das aufgezeigte Problem allerdings nur oberflächlich gelöst. Denn im Vordergrund der bislang vorliegenden Zulassungen steht offensichtlich nur, dass die betreffende Angabe wissenschaftlich gesichert ist. Das besagt aber noch lange nicht, dass sie von dem Verbraucher richtig verstanden wird. Als Beispiel verweise ich auf die mit der  Verordnung (EU) 432/2012 zugelassene Angabe:

 

Betain trägt zu einem normalen Homocystein-Stoffwechsel bei.

 

Diese Angabe ist für den flüchtigen Verbraucher schlicht unverständlich. Sie ist für ihn aber keineswegs nicht vorhanden, sie wird vielmehr im Zweifel falsch verstanden und ist dann irreführend. Und das gilt nicht nur für den flüchtigen Verbraucher, sondern auch für den interessierten, also aufmerksamen Verbraucher, der jedoch nicht über die zum Verständnis erforderlichen Kenntnisse verfügt, womöglich auch intellektuell unterdurchschnittlich ausgestattet ist. Das kann hier nicht vertieft und weiter differenziert werden. Aber es muss doch festgehalten werden, dass

 

                die interessierten, jedoch mit wenig Erkenntnisvermögen gesegneten Verbraucher in der offiziellen             Diskussion kaum eine Rolle spielen.

 

Jedenfalls muss eine gesundheitlich relevante Angabe auch dann als irreführend beurteilt werden, wenn davon auszugehen ist, dass nur flüchtige Verbraucher einen falschen Eindruck über die tatsächliche Beschaffenheit des Lebensmittels haben werden.

 

Umgekehrt kann bei einer sachgerechten Beurteilung eine Werbung, die zwar inhaltlich nicht der Beschaffenheit des Lebensmittels entspricht, jedoch nur wirtschaftliche Bedeutung für den Käufer hat, nicht generell als irreführend und damit als unzulässig beurteilt werden. In Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH ist vielmehr davon auszugehen, dass keine rechtserhebliche Irreführung vorliegt, wenn eine unzutreffende Angabe durch andere Angaben, die gut lesbar sind, ausgeschlossen wird, auch wenn der Käufer die Packung drehen muss. Das kann allerdings nicht gelten, wenn die Angabe, die für sich irreführend ist, besonders hervorgehoben wird, insbesondere durch die Bezeichnung des Lebensmittels oder seine optische Aufmachung oder wenn die Angaben widersprüchlich sind.

 

 

(1.3 Das Irreführungsverbot in der Rechtsetzung)

 

Ich komme zur Bedeutung des Irreführungsverbotes in der Rechtssetzung

 

Die Rechtsetzung unterliegt denselben Kriterien, wie ich sie für die Rechtsfindung zuvor dargestellt habe. Nun könnte gesagt werden, dass diese Kriterien in der Rechtsetzung keine Rolle spielen, weil das Verbot der Irreführung mit Art. 16 der Verordnung (EG) 178/2002 und § 11 LFGB fixiert ist und deshalb eine Rechtsetzung nicht mehr in Betracht kommt.

 

Dabei wird allerdings übersehen, dass die Irreführung nicht nur durch Angaben und Aufmachung in der Kennzeichnung und Werbung ausgelöst werden kann, sondern auch durch die vorgeschriebene Kennzeichnung. Diese Angaben sind, wie schon ausgeführt, nicht einfach nicht existent, sondern sie können bei einer großen Zahl schlecht informierter Verbraucher falsche Vorstellungen auslösen und das führt dann zu einer gesetzlich normierten Irreführung.

 

Deshalb kann es nicht richtig sein, bei neuen Kennzeichnungsvorschriften nur auf das intellektuelle Niveau des aufmerksamen Verbrauchers mit ausreichenden Kenntnissen abzustellen. Die Forderungen, die zur Information des Verbrauchers durch weitere Pflichtkennzeichnung gestellt werden, sind zur Vermeidung einer solchen gesetzlich normierten Irreführung an dem Niveau der großen Zahl Verbraucher zu messen, die zwar interessiert aber eben nicht ausreichend informiert sind, um die Kennzeichnung richtig verstehen zu können. Dies mag zwar nicht den politisch formulierten Interessen von Verbrauchern entsprechen, ist aber in einem richtig verstandenen Verbraucherschutz zu berücksichtigen.

 

Ich denke, dass sich zu dieser Problematik gleich anschließend Herr Dr. Meyer äußern wird.

 

(2. Spezielle Aspekte des Irreführungsverbotes)

 

Ich komme zum  zweiten Teil meines Referats mit einigen weiteren Aspekten des Irreführungsverbotes:

 

2.1

 

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass dieses Verbot kein Vermögensdelikt ist, sondern immer schon eingreift, wenn eine Angabe oder Aufmachung zur Irreführung geeignet ist. Auch daraus ergibt sich übrigens, dass eine Befragung der Verbraucher verfehlt ist, weil sich in unserer schnelllebigen Zeit zwischen dem Tatzeitpunkt und der Durchführung einer Verbraucherbefragung ein Zeitraum befindet, in dem die bekannten Medien die Verbrauchererwartung schon wieder völlig verändert haben können.

 

 

2.2

Es ist nicht erforderlich, dass der für die Angabe oder Aufmachung Verantwortliche eine Täuschung der Verbraucher beabsichtigt. Gegen das Verbot der Irreführung kann auch fahrlässig verstoßen werden. Allerdings ist ein solcher Verstoß bei fahrlässigem Verhalten nur eine Ordnungswidrigkeit, bei vorsätzlichem Handeln eine Straftat.

 

Vorsätzlich handelt derjenige, dem die objektiven Merkmale der Tat bekannt sind. Ein vorsätzlicher Verstoß gegen die lebensmittelrechtlichen Irreführungsverbote liegt deshalb vor, wenn der Verantwortliche die Angabe und die tatsächliche Beschaffenheit des Lebensmittels kennt. Dass er sich der Rechtswidrigkeit, also des Verstoßes bewusst ist, gehört nicht zum Vorsatz. Ob das in der Praxis der Überwachungsbehörden so bekannt ist, müsste einmal geprüft werden.

 

2.3

Die lebensmittelrechtlichen Irreführungsverbote beziehen sich auf Bezeichnungen, Angaben und Aufmachung beim Inverkehrbringen. Inverkehrbringen ist jede Abgabe an eine andere Person oder ein anderes Unternehmen, mithin nicht nur die Abgabe an Endverbraucher. Auch die Abgabe von Getreide an eine Mühle, von der Mühle an den Bäcker und vom Bäcker an das Handelsunternehmen ist Inverkehrbringen. Daraus folgt, dass auch gewerbliche Unternehmen durch die lebensmittelrechtlichen Irreführungsverbote geschützt werden.

 

2.4

Mit den Begriffen Bezeichnung, Angabe und Aufmachung wird jede Äußerung beim Inverkehrbringen erfasst, sei sie schriftlich oder mündlich, durch Worte oder Bilder oder durch andere in der menschlichen Kommunikation aufnehmbare Signale. Maßgebend ist aber immer die Gesamtaufmachung, so dass die frühere Auffassung, die Pflichtkennzeichnung könne eine Irreführung nicht beseitigen, nicht mehr haltbar ist (und nach meiner Auffassung auch nicht haltbar war).

 

Das schließt nicht aus, dass einzelne Elemente der Aufmachung, insbesondere auch Bilder, für sich irreführend sein können. Das gilt insbesondere dann, wenn sich die Angaben, mit denen eine Irreführung ausgeschlossen würde, versteckt und möglichst klein gedruckt an ganz anderer Stelle befinden. Unter diesen Voraussetzungen kann auch ein Zutatenverzeichnis die Irreführung nicht ausschließen.

 

2.5

Eine Irreführung kann auch in dem Unterlassen einer Handlung bestehen. Das galt im deutschen Lebensmittelrecht schon immer. Allerdings ist dieser Grundsatz durch die Richtlinie 2009/29/EG eindringlich konkretisiert worden. Danach gilt es als irreführend, wenn dem Verbraucher wesentliche, konkret bestimmte Informationen vorenthalten werden. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Richtlinie mit § 5a UWG in deutsches Recht umgesetzt. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Vorschrift auch zum Lebensmittelrecht gehört. Wird dies verneint, muss das Irreführungsverbot des § 11 LFGB richtlinienkonform und damit in gleicher Weise wie § 5a UWG angewendet werden. Es ist schade, dass mir nicht genügend Zeit zur Verfügung steht, dies näher auszuführen.

 

(3. Die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften)

 

Damit komme ich zu einer kurzen Darstellung der einschlägigen Vorschriften.

 

Die vorrangige Vorschrift zum Schutz des Verbrauchers vor Irreführung beim Inverkehrbringen von Lebensmitteln und Futtermitteln ist Art. 16 der Verordnung (EG) 178/2002. Diese Vorschrift verbietet jedoch eine Irreführung nur generell und unbeschadet spezifischer Bestimmungen. Die spezifische Bestimmung für das Inverkehrbringen von Lebensmitteln enthält Art. 2 der Richtlinie (EG) 2000/13/EG mit einzelnen Tatbeständen zur Konkretisierung des Verbotes; diese gemeinschaftsrechtliche Regelung ist mit § 11 LFGB in deutsches Recht umgesetzt worden. Die Parallelvorschrift für Futtermittel enthält Art. 11 der Verordnung (EG) 767/2009; im deutschen Lebensmittelrecht, nämlich in § 19 LFGB, wird lediglich auf diese Verbotsvorschrift verwiesen.

 

Neben diesen generellen Verboten gibt es zahlreiche spezielle Verbote für einzelne Produktgruppen. Der Gesetzgeber der Gemeinschaft/Union liebt es allerdings, auch das generelle Verbot in zahlreichen Verordnungen und Richtlinien zu wiederholen, obgleich dies im Hinblick auf Art. 16 der Verordnung (EG) 178/2002 nicht notwendig wäre. Im Gemeinschaftsrecht gibt es gut fünfzig derartige Verbotsvorschriften. Dies im Einzelnen hier darzustellen ist nicht möglich. Es ist allerdings auch nicht notwendig, weil letztlich alle Spezialvorschriften darauf hinauslaufen, dass es unzulässig ist, den Verbraucher in dem Sinne, wie ich dies hier dargestellt habe, irrezuführen.

 

…………

 

Vor 3200 Jahren lautete das auf einer Gesetzestafel der Hethiter veröffentlichte Irreführungsverbot:

 

Du sollst das Fett deines Nachbarn nicht verzaubern.

 

Ich hoffe, dass ich Sie nicht verzaubert, d.h. mit meiner Darstellung irregeführt habe

 

und ich  danke allen, die mir zugehört haben.

 

 

 

 

 

 

 

Verbraucherschutz und Verbraucherleitbild sind die Bezeichnungen für den prozeduralen Vorgang der Wertung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

    

 

Rechtsanwalt Kurt-Dietrich Rathke

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