Eine als Festvortrag bezeichnete Rede zu einem Jubiläum lässt erwarten, dass der Redner in höchst feierlicher Form grundlegende, allerdings auch möglichst unverbindliche Lobpreisungen des Jubilars, hier also des deutschen Lebensmittelrechtstags, vorträgt. Diesem Anspruch kann ich leider nicht genügen. Ich bin, wie Sie festgestellt haben, Ersatzmann für Herrn Staatssekretär Billen und verfüge weder über die politischen Einsichten eines Staatssekretärs noch über die entsprechende Würde. Ich werde mich deshalb in diesem sogenannten Festvortrag nüchtern mit einigen Fragen aus den 30 Jahren Lebensmittelrechtstag befassen und ich kann dabei natürlich auch nicht unterdrücken, dass ich nur ein nüchterner Jurist bin und deshalb auch nur juristische Fragen behandle.

 

1.

Der erste Lebensmittelrechtstag vor 30 Jahren beschäftigte sich mit der Frage, ob wir ein neues Lebensmittelgesetz brauchen. Diese Frage war damals dringend veranlasst. Denn es war höchste Zeit, in dem großen Rahmen einer Veranstaltung, wie es der Lebensmittelrechtstag von Beginn an war, die Position des deutschen Lebensmittelrechts im Zusammenhang mit dem damaligen Lebensmittelrecht der Europäischen Gemeinschaft zu überdenken. Anlass dafür waren vor allem

•          die sogenannte neue Strategie der Kommission aus dem Jahr 1985 und

•          die Tatsache, dass es die Gemeinschaft trotz dieser neuen Strategie nicht fertig brachte, die allgemeinen Grundsätze des gemeinschaftlichen Lebensmittelrechts zu bestimmen und die wichtigsten Begriffe zu definieren.

Es gab allerdings einen weiteren Umstand dafür, über ein neues Lebensmittelgesetz zu diskutieren. Er bestand darin, dass sich die Praxis des deutschen Lebensmittelrechts bis zur Verkündung der neuen Strategie noch in einer Art selbstzufriedener Überzeugung von der Überlegenheit dieses deutschen Lebensmittelrechts und seiner Einmaligkeit für einen richtigen Verbraucherschutz im Verkehr mit Lebensmitteln befand. Dies hatte zur Folge, dass zahlreiche Gerichte über das Recht der Gemeinschaft schlicht hinweg gingen oder es gar nicht kannten.

Vor allem der Schutz des flüchtigen Verbrauchers war für viele Lebensmittelrechtler eine Art Glaubenssatz, der mehr oder weniger kritische Gedanken mehr oder weniger einhüllte. Die Vorstellung, dass aus den Mitgliedstaaten Lebensmittel auf den deutschen Markt gelangen, die dem deutschen Schutzniveau, dem nach unserer festen Überzeugung höchsten Schutzniveau der Welt, nicht entsprechen, war ein Schreckensbild aller engagierten Beteiligten. Zwar waren am Horizont dieses Himmels der Selbstzufriedenheit bereits Gewitterblitze zu erkennen, sie wurden aber schlicht und einfach nicht beachtet.

Der erste dieser Blitze war der Grundsatz der Warenverkehrsfreiheit, der bereits in der 1. Fassung des EG-Vertrages enthalten war. Er wurde von der lebensmittelrechtlichen Praxis in Deutschland ebenso beiseitegeschoben, wie der nachfolgende Donner der EuGH Entscheidung Dassonville aus dem Jahr 1974.

Erst mit der neuen Strategie der Kommission in ihrem Weißbuch vom 14.6.1985 wurde auch im deutschen Lebensmittelrecht bewusst, dass Deutschland keine Insel der Seligen ist, sondern mit dem Beitritt zu der Gemeinschaft auch lebensmittelrechtlich einer gemeinsamen Rechtsordnung unterworfen wurde und dass diese Rechtsordnung keineswegs auf die besonderen Befindlichkeiten des deutschen Verbraucherschutzes Rücksicht nimmt.

Die Dassonville Formel des EuGH, auf die sich das Weißbuch bezog, besagt bekanntlich, dass jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, gemeinschaftsrechtlich unzulässig ist. Dass dieser Grundsatz auch auf die lebensmittelrechtlichen Vorschriften zum Schutz der Verbraucher anzuwenden ist, wurde in Deutschland erst richtig durch das Weißbuch der Kommission bewusst.

Es war deshalb das Verdienst der Initiatoren des Lebensmittelrechtstags, die Diskussion über die Zukunft des deutschen Lebensmittelrechts aufzunehmen. Wenn ich dies aus den Unterlagen richtig entnehme, war aber der Kampf zwischen den Verfechtern des traditionellen deutschen Lebensmittelrechts einerseits und den Anwälten der europäischen Rechtsordnung andererseits auch auf dem ersten Lebensmittelrechtstag voll im Gange.

Die zu diesem 1. Lebensmittelrechtstag gestellte Frage, ob ein neues Lebensmittelgesetz gebraucht wird, ergab sich zwangsläufig daraus, dass die Gemeinschaft zwar einen bombastischen Grundsatz verfolgte, dessen Umsetzung in die Praxis aber in Details wie die gerade Gurke stecken blieb. Und daraus ergab sich für die deutsche lebensmittelrechtliche Praxis die Frage, ob das bestehende Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz, das LMBG, für die Umsetzung der Dassonville Formel in Deutschland geeignet ist.

Wie die gestellte Frage beantwortet wurde, ist bekannt: nachdem im Januar 2002 die Verordnung (EG) 178/2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts verkündet worden war erschien im September 2005 das Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände und Futtermittelgesetzbuch. Aber die 1988 gestellte Frage wurde damit keineswegs endgültig erledigt. Es blieben Relikte, die selbst bis heute noch nicht verschwunden sind.

–     Eines dieser Relikte ist das spezielle Verbot für das Inverkehrbringen von verzehrsungeeigneten Lebensmitteln in § 11 Abs. 2 Nr. 1 LFGB

             –    das zweite Relikt ergibt sich aus der Frage:

Brauchen wir die Gleichstellung von Mineralstoffen und Spurenelementen sowie deren Verbindungen, der Aminosäuren und deren Derivate sowie der Vitamine A und D und deren Derivate mit den Lebensmittelzusatzstoffen gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 LFGB verbunden mit dem Verbot des § 6 LFGB ?

Dass dieses Verbot auf Lebensmittel aus anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft nicht anwendbar ist, wurde von Anfang an vertreten. Da Frau Dr. Hüttebräucker hier anwesend ist und gestern einen interessanten Vortrag gehalten hat, will ich nicht versäumen, auf ihren Aufsatz in der ZLR 2005 zu verweisen. Auch in meiner Kommentierung des LFGB wurde bereits 2005 diese Auffassung vertreten. Das liegt nun immerhin über 11 Jahre zurück und die Frage ist eigentlich beantwortet, aber halt nicht erledigt.

Es ist erfreulich, dass mit einer Entscheidung des EuGH vom 19.1.2017  in dem Verfahren C-282/15 nun doch Bewegung in den politischen Raum kommt.

Kurz zum Sachverhalt und der Entscheidung des EuGH:

Gegenstand der Entscheidung war ein Antrag der Firma Queisser Pharma  vom 27.3.2006 auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Verbot der Herstellung und des Vertriebs eines Nahrungsergänzungsmittels, das die Aminosäure L-Histidin enthielt. Da dieser Antrag vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit abgelehnt wurde, erhob Queisser Feststellungsklage beim Verwaltungsgericht Braunschweig, das dann mit einem Vorlagebeschluss den EuGH anrief.

Der EuGH führte in seiner Entscheidung zunächst aus, es sei einem  Mitgliedstaat zuzugestehen, dass er nach dem Vorsorgeprinzip Schutzmaßnahmen trifft, ohne abwarten zu müssen, dass das Vorliegen und die Größe der Gefahren für Leben oder Gesundheit klar dargetan sind. Diese Risikobewertung dürfe jedoch nicht auf rein hypothetische Erwägungen gestützt werden. Das scheine aber im vorliegenden Fall - in Anbetracht der von der deutschen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen gemachten Angaben -  nur bestimmte Aminosäuren zu betreffen und dies wäre zur Rechtfertigung eines unterschiedslos für alle Aminosäuren geltenden Verbots mit Erlaubnisvorbehalt, wie es das LFGB vorsieht, unzureichend.

Diese Begründung des EuGH Urteils führt zu drei Erkenntnissen:

Erstens: das pauschale Verbot gemäß § 6 in Verbindung mit der Gleichstellung gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 LFGB ist mit Unionsrecht nicht vereinbar. Es hat jedenfalls, soweit für mich ersichtlich, bislang keinen Versuch der Bundesregierung gegeben, unter Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips ein Gesundheitsrisiko für alle erfassten Mineralstoffe sowie Aminosäuren und  deren Derivate zu liefern.

Zweitens: das pauschale Verbot des § 6 LFGB ist auf die gleichgestellten Stoffe, unabhängig davon, ob das Lebensmittel aus einem Mitgliedstaat nach Deutschland verbracht wurde, nicht anwendbar; das gilt auch für die in Deutschland hergestellten und vertriebenen Lebensmittel.

Drittens: Die Bundesrepublik hielt es trotz der Hinweise in der Literatur und vor allem auch trotz der im Ergebnis gleichen Entscheidungen des BGH vom 15.7.2010 fast 12 Jahre nicht für erforderlich, die Gleichstellung gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 LFGB aufzugeben. Stattdessen wurde mit dem Änderungsgesetz vom 22.7.2011 versucht, auf der Sonderregelung, soweit möglich, zu beharren. Dass dabei mit § 6 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 LFGB eine völlig verquere und unverständliche Vorschrift entstand, hat offenbar die Politik nicht geniert.

 

2.

Über 30 Jahre Lebensmittelrechtstag hinweg gezogen hat sich auch ein Thema, das immer wieder bitter ernst genommen wird, aber auch ein wenig ironisch betrachtet werden kann. Nämlich die Entwicklung vom flüchtigen Verbraucher mit dementen Zügen bis hin zum aufmerksamen und verständigen Verbraucher – und womöglich wieder ein bisschen zurück.

Das jedenfalls für mich Ironische an diesem Thema besteht darin, dass nach wie vor

– sowohl äußerst flüchtige und unverständige Verbraucher

– als auch aufmerksame und höchst verständige Verbraucher herumlaufen und Lebensmittel kaufen.

Geht man Betrachtungen in Rechtsprechung und Literatur nach, dürfte es diese Vielfalt der Verbraucher gar nicht geben. Vielmehr ist danach der lebensmittelrechliche Verbraucher ein aus der Evolution des Menschen hervorgegangenes Einheitswesen mit präzis bestimmten Wesensmerkmalen, Auftreten und Einsichten.

Tatsächlich gibt es – zumindest noch – keinen Einheitsmenschen, jeder Mensch ist aufgrund seiner Veranlagung und seiner Prägung anders als alle anderen und verhält sich dementsprechend auch bei Kauf und Verzehr von Lebensmitteln individuell.

Und ebenso gibt es kein Einheitslebensmittel, sondern hier in Deutschland eine ungeheure Vielzahl unterschiedlicher Lebensmittel für die verschiedensten Zwecke, von der Zufuhr oder Vermeidung von Nährstoffen bis zu geschmacklichen Seligkeiten.

Die Aspekte, die beim Schutz des Verbrauchers vor Täuschung berücksichtigt werden müssen, sind mithin höchst unterschiedlich; sie ergeben sich vor allem aus

–  der Beschaffenheit und Aufmachung des Lebensmittels

–  und der Situation, in der sich der Verbraucher befindet.

Merkwürdig ist allerdings, dass wir im Täuschungsschutz immer von Verbrauchern sprechen, obgleich die Täuschung doch weit überwiegend beim Kauf eines Lebensmittels stattfindet. Geschützt wird zwar letztlich immer der Verbraucher, der das Lebensmittel verzehrt, getäuscht wird aber der Käufer, der nicht zwingend selbst das gekaufte Lebensmittel verzehrt.

Die Quintessenz aus diesen Feststellungen deutet darauf hin, dass ein Verbraucherleitbild, wie es auch abstrakt umschrieben werden mag, ein Konstrukt ist, das für die Frage, ob ein Lebensmittel im konkreten Fall irreführend aufgemacht ist, nichts hergibt. Lebensmittel werden gegessen und genossen, aber das Verbraucherleitbild kann weder essen noch schmecken oder riechen, es hat überhaupt keine Gefühle und es kann auch nicht lesen.

Das bedeutet doch, dass ich mir zur Beurteilung eines konkreten Falles etwas anderes einfallen lassen muss, als dieses wesenslose Verbraucherleitbild.

Ich will das hier etwas näher darstellen.

Dabei muss ich allerdings etwas tiefer in die rechtliche Materie, nämlich das Verbot der Täuschung in Art. 7 LMIV einsteigen. Ich denke aber, dass dies auch bei Nichtjuristen Interesse findet, weil auch sie damit befasst sind, den lebensmittelrechtlichen Täuschungsschutz des Art. 7 LMIV zu praktizieren.

 

Ist ein bestimmter Sachverhalt nach einer Rechtsnorm zu beurteilen, spricht man in der Rechtspraxis üblicherweise davon, dass der Sachverhalt unter diese Rechtsnorm, hier Art. 7 Abs. 1 LMIV, zu subsumieren, also unterzuordnen ist. Gemeint ist damit, dass der abstrakte Tatbestand der Rechtsnorm so lange zu konkretisieren ist, bis das Ergebnis dieser Konkretisierung mit dem zu beurteilenden Sachverhalt

– übereinstimmt, sodass die Vorschrift anzuwenden ist

– oder nicht übereinstimmt, sodass eine Anwendung der Vorschrift ausgeschlossen ist.

Dafür gibt das abstrakte, inhaltsleere Verbraucherleitbild nichts her. Zwar gibt es zahlreiche Anhaltspunkte, den Begriff irreführend zu konkretisieren. Das sind vorrangig Rechtsnormen, die verbindlich bestimmen, was irreführend ist, zum Beispiel das Verbot der Angabe „humanisiert“ beim Inverkehrbringen von Säuglingsanfangsnahrung (derzeit § 22a DiätV). Nicht verbindliche Anhaltspunkte sind zum Beispiel gerichtliche Entscheidungen zu ähnlichen Sachverhalten, die Leitsätze im Lebensmittelbuch und entsprechende Herstellerrichtlinien sowie eine umfassende Literatur. Bei diesen Anhaltspunkten, und das ist festzuhalten, spielt das  Verbraucherleitbild keine Rolle, weil diese Anhaltspunkte im Unterschied zu dem Verbraucherleitbild jeweils inhaltliche Aussagen enthalten.

Solche Anhaltspunkte stehen aber vielfach nicht zur Verfügung oder sind selbst noch nicht ausreichend konkret. In solchen Fällen bietet es sich an, Kriterien für die Entscheidung

-          nicht allein aus dem Begriff von oben nach unten, also deduktiv

-          sondern aus dem zu beurteilendem Sachverhalt, im Bild von unten nach oben

zu gewinnen.

Begriff und Sachverhalt müssen sich nach diesem Bild entgegenkommen, bis festzustellen ist, ob eine Irreführung vorliegt.

Ich will das Gewinnen von Entscheidungskriterien aus dem Sachverhalt an einigen Beispielen darstellen.

Als erstes  Beispiel Tomaten aus einem holländischen Gewächshaus, die als frisch bezeichnet, in einer leicht rötlichen Verpackung angeboten werden, vor 5 Tagen geerntet wurden und kleine schwarze Punkte aufweisen.

Zunächst wende ich mich der Frage zu, ob die Auslobung „frisch“ gesundheitlich für die zu beurteilenden Tomaten relevant ist. Weil dafür keine Anhaltspunkte gegeben sind, kann ich diesen Gesichtspunkt beiseite lassen.

Daraus ergibt sich allerdings eine Folgerung, die ich schon angedeutet habe und die nach meinem Eindruck vernachlässigt wird. Es kommt nämlich zur Beurteilung einer Irreführung dann nicht mehr auf den Verbraucher an, sondern auf den Käufer. Denn es geht um den Kauf und nicht um den Verbrauch. Zwar wird vielfach der Käufer auch Verbraucher sein, die Situation, in der er sich befindet, ist aber von dem Verzehr grundverschieden. Der Käufer beißt nicht in die Tomate, sondern er muss sich entscheiden, ob er die als frisch angebotenen Tomaten kaufen will.

Wären die Tomaten offen ausgelegt, hätte der Käufer die Möglichkeit, sich die Tomaten anzuschauen und für sich zu entscheiden, ob sie seinen Vorstellungen von frischen Tomaten entsprechen. In meinem Fall befinden sich die Tomaten aber in einer leicht rötlichen, sonst durchsichtigen Folie. Dafür kann es zwei Gründe geben, nämlich

– den Schutz der Tomaten durch die Verpackung

– oder schlicht der Versuch des Herstellers, eine Feststellung der äußeren Beschaffenheit dieser Tomaten zu erschweren.

Hiernach muss im Fall der Beanstandung ein Richter zunächst ermitteln, ob ein Schutz durch eine leicht rötlich gefärbte Verpackung erforderlich ist. Ich gehe davon aus, dass dies sachverständig verneint wird und es bleibt dann nur die Möglichkeit, dass der Hersteller die Absicht hat, die Feststellung des Zustands der Tomaten zu erschweren. In diesem Fall würde ich eine Irreführung bejahen, weil 5 Tage alte Tomaten aus einem holländischen Gewächshaus nur dann als frisch bezeichnet werden dürfen, wenn sie keine schwarzen Punkte aufweisen.

Ich verändere den Fall: die Tomaten sind nicht in einer Folie, sondern in einem Netz verpackt und damit für den Käufer sichtbar. Der Käufer kann also erkennen, dass die Frische der Tomaten fraglich ist. In diesem Fall würde ich eine Irreführung verneinen, weil der Käufer in der Lage ist, selbst zu entscheiden, ob er die Auslobung für richtig oder falsch hält.

Ich verändere den Fall nochmals und diesmal sehen die Tomaten frisch und appetitlich aus. Das beruht allerdings auf einer für den Käufer nicht erkennbaren Behandlung. Hier würde ich wieder von einer Irreführung ausgehen, weil der Käufer die Behandlung nicht erkennen kann.

Die Quintessenz aus meiner Darstellung des Falles ist offenkundig:

Zur Beurteilung, ob eine Irreführung vorliegt, kommt es nicht auf ein abstraktes Verbraucherleitbild an, sondern darauf, dass ich den Sachverhalt, der zu beurteilen ist, eingehend untersuche und daraus Anhaltspunkte für die Beurteilung gewinne.

Damit ist es allerdings nicht getan. Dazu beziehe ich mich auf eine  Entscheidung des OLG Nürnberg vom 7.2.2017. Gegenstand dieser Entscheidung war die Auslobung „frische Weidemilch“ für Milch von Kühen, die im Jahr an mindestens 120 Tagen für mindestens 6 Stunden täglich auf der Weide gehalten werden. Auf der Rückseite der Verpackung war diese Art der Weidehaltung gekennzeichnet. Das OLG Nürnberg verneinte eine Irreführung und führte dazu aus:

Der Verbraucher wird sich daher die Verpackung, auch wenn es um einen niederpreisigen Artikel geht, genauer betrachten, um das Haltbarkeitsdatum zu überprüfen. Der entsprechende Hinweis befindet sich auf der Flaschenrückseite direkt neben den Angaben zur Weidezeit, die ihm dann ebenfalls ins Auge fallen werden.

Dem halte ich entgegen:

Es geht hier nicht darum, was der abstrakte Verbraucher tun wird, ob er also die Rückseite genauer betrachtet. Es geht in einem solchen Fall  allein darum, was er tun muss, um vor Täuschungen geschützt zu sein.

In dem vom OLG Nürnberg entschiedenen Fall war es dem Käufer zumutbar, nach den Angaben auf der Rückseite der Packung zu schauen und die dort befindliche Angabe über die Weidezeit zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen.

Stattdessen bezog sich das OLG wie alle deutschen Gerichte gebetsmühlenartig auf einen Verbraucher, der überhaupt nicht existiert. Und der deshalb auch nicht lesen kann. Von Gefühlen ganz abgesehen. Er kann allerdings auch nicht getäuscht werden, weil er auch nicht denken kann. Deshalb ist es auch falsch, dass er das Zutatenverzeichnis lesen wird.

Zur Klarstellung: es gibt natürlich neben dem Zutatenverzeichnis weitere Umstände, die für die Beurteilung, ob irreführend oder nicht von Bedeutung sein können. In einem vom OLG Hamburg entschiedenen ähnlichen Fall nannte das Gericht im Rahmen der Gesamtwirkung der Verpackung die verwendeten Begriffe und Abbildungen sowie die Platzierung, Größe, Farbe, Schriftart, Sprache, Syntax und Zeichensetzung der verschiedenen Elemente auf der Verpackung. Sie sind die maßgebenden Elemente für die Beurteilung einer Irreführung und nicht ein abstraktes Verbraucherleitbild, das weder greifbar noch sichtbar ist.

Eine besondere Situation besteht, wenn die Aufmachung eines Lebensmittels einen Gesundheitsbezug hat. Das betrifft zum Beispiel besondere Anweisungen für die Aufbewahrung von Lebensmitteln gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchstabe g LMIV.

Mein Fall:

Ein leichtverderblicher Heringssalat wird in einer Vakuumverpackung in Verkehr gebracht. Er ist nach dem Öffnen der Verpackung nur noch 24 Stunden haltbar. Fehlt ein entsprechender Hinweis, ist die Aufmachung irreführend und dazu benötige ich auch keinen aufmerksamen oder flüchtigen Verbraucher.

Nun befindet sich in meinem Fall eine entsprechende Anweisung auf der Verpackung, jedoch an versteckter Stelle und außerdem auch noch in kleiner Schrift. Da bietet es sich natürlich an, den flüchtigen Verbraucher herbeizurufen und ihm die Beurteilung der Irreführung zu überlassen. Das Dumme an der Sache ist allerdings, dass dieser flüchtige Verbraucher, wie schon gesagt, nicht denken und mithin auch nicht lesen und außerdem auch nichts sehen kann.

Er wird allerdings auch nicht benötigt. Es ergibt sich nämlich aus dem Schutzzweck der Vorschrift, dass gesundheitsbezogene Angaben besonders deutlich sein müssen. Denn der Schutz der Gesundheit ist der oberste Zweck lebensmittelrechtlicher Vorschriften und er muss deshalb auch im Täuschungsschutz an oberster Stelle berücksichtigt werden. Es muss deshalb mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass in meinem Fall eine Kennzeichnung nicht übersehen werden kann.

Zusammenfassend ist festzuhalten:

Der letztlich entscheidende Richter muss

•          einerseits das Wort irreführend aus seinem sprachlichen Inhalt und verfügbaren Anhaltspunkten wie Leitsätze soweit möglich konkretisieren und

•          andererseits die Merkmale des Sachverhaltes sukzessive abstrahieren,

bis sich, um in meinem Bild zu bleiben, beide Seiten auf einer vergleichbaren Stufe zur Beurteilung eignen (näher dazu „Die Gute Herstellungspraxis zwischen Sein und Sollen“, C.H. Beck 2010 S. 316 ff)..

Dabei muss der Richter die ihm vom Gesetzgeber übertragene Wertung nach dem Schutzzweck des Irreführungsverbotes vornehmen und im Rahmen dieser Aufgabe alle Anhaltspunkte für die Konkretisierung des Wortes irreführend – in meinem Bild von oben nach unten – berücksichtigen und bewerten.

Ich hoffe deutlich gemacht zu haben, dass nach meiner Auffassung das Verbraucherleitbild, sei es der flüchtige Verbraucher, der aufmerksame Verbraucher oder der verständige Verbraucher für die Anwendung der lebensmittelrechtlichen Irreführungsverbote überflüssig ist. Er taugt nur als Gegenstand hochintellektueller Darlegungen in der Literatur und in mehr oder weniger wissenschaftlichen Diskussionen. Davon sind auch die Lebensmittelrechtstage nicht ausgeschlossen.

Obgleich ich das nicht durch eine Fundstelle belegen kann, dürfte der Kampf zwischen flüchtigen und aufmerksamen Verbraucher schon den 1. Lebensmittelrechtstag 1988 belebt haben. Dafür spricht der 1. Teil des Programms mit dem Thema „Was erwartet der Verbraucher von einem leistungsfähigen Lebensmittelrecht“

Voll zur Sache ging es dann beim 4. deutschen Lebensmittelrechtstag 1991 mit dem Thema „Verkehrsauffassung und Verbraucherwartung im Lebensmittelrecht“. So stellte Herr Professor Streinz in seinem Vortrag zu dem Thema „Gibt es eine europäische Verkehrsauffassung“ die Frage, welches Verbraucherleitbild zur Feststellung der Verkehrsauffassung zugrunde zu  legen ist. Und Walter Zipfel setzte sich traditionstreu für den flüchtigen Verbraucher ein.

Für ihn entscheidend war allerdings die eigene Sachkunde des Gerichts, eine Auffassung, die selbstverständlich von dem Anhänger einer empirischen Erforschung der Verbrauchererwartungen durch Meinungsbefragung, Herrn Professor Raffée,  abgelehnt wurde. Dabei führt die Sachkunde des Gerichts im Sinne von Zipfel zwangsläufig zur Berücksichtigung der Umstände des Falles und damit auch zur Einbeziehung von Anhaltspunkten aus dem Sachverhalt von unten nach oben.

Die nächste Schlacht fand bereits drei Jahre später, nämlich unter dem Thema „Täuschungsschutz im deutschen und europäischen Lebensmittelrecht“ auf dem 7. Lebensmittelrechtstag 1994 statt. Die geistigen Höhen dieser fröhlichen Wissenschaft wurden durch die Podiumsdiskussion zu der „Philosophie des Verbraucherschutzes vor Täuschung“ gleichsam in das Wesenslose der Transzendent gesteigert und die Auseinandersetzung zwischen dem mündigen Verbraucher und dem unmündigen Schutzobjekt war zentrales Anliegen dieser Tagung.

Der nächste Schauplatz für die Auseinandersetzung war der 15. Lebensmittelrechtstag 2002 mit dem Programm „Kehrtwende in der Lebensmittelpolitik – Kehrtwende im Lebensmittelrecht?“ Als ich bei der Vorbereitung auf meinen heutigen Vortrag in der ZLR das 2. Referat las, war ich nahezu begeistert. Herr Professor Schröder aus Innsbruck führte nämlich aus:

Der Verbraucher oder das Bild, das sich das Recht von ihm macht, bleibt deshalb ein Phantom.

Und dem folgt der Satz

Er ist die Sau, die jeden Tag in einer anderen Richtung durchs Dorf gejagt wird.

Und diese Jagd ging weiter. Das Verbraucherleitbild war schon wieder Thema zum 18. Lebensmittelrechtstag 2005 und hat auch die nachfolgenden Lebensmittelrechtstage bis heute immer wieder begleitet.

Von großer Fruchtbarkeit war das Verbraucherleitbild aber für die literarischen Äußerungen, sei es in Aufsätzen oder Urteilsanmerkungen, in großer Zahl auch in der ZLR. Und die Gerichte haben, soweit ich das beurteilen kann, in den Entscheidungen zum Täuschungsschutz allenfalls nur selten davon abgesehen, dass Verbraucherleitbild zu bemühen. Aber, ich habe das schon gesagt, in der Regel gebetsmühlenartig ohne einen direkten Bezug zu dem Sachverhalt. Denn es ist nicht möglich, aus einem inhaltsleeren Verbraucherleitbild im Wege der Deduktion konkrete Elemente für die Beurteilung eines Sachverhaltes zu gewinnen.

Nun werden vielleicht einige Zuhörer mir entgegenhalten wollen, dass ich den Verbraucher aus dem Lebensmittelrecht herauslösen will. Dazu mit Nachdruck: das ist  ganz und gar nicht der Fall.

Mein Anliegen geht nur dahin, einen inhaltsleeren Begriff zu hinterfragen und damit fragwürdig zu machen. Allerdings steckt dahinter noch ein anderer Gedanke, nämlich die Unterscheidung zwischen

•          dem geschützten Verbraucher und

•          dem schützenden Staat,

also die Unterscheidung zwischen Geschütztem und Schützer.

Das Lebensmittelrecht dient ausschließlich dazu, den Verbraucher zu schützen. Dies ist der Zweck des Lebensmittelrechts und damit auch jeder Anwendung lebensmittelrechtlicher Vorschriften.

Aber: Ob und wie dieser Schutz durchzusetzen ist, das ist nicht Aufgabe der Verbraucher, sondern allein Aufgabe des Staates, der dabei vielfältige Kriterien zu beachten hat. Dazu gehören im Rahmen der generellen Zielsetzung des Verbraucherschutzes die Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung, die Schaffung der dafür erforderlichen Voraussetzungen wie Erzeugung, Herstellung, Import und Vertrieb der Lebensmittel sowie die Berücksichtigung internationaler Verpflichtungen.

Und dass Krieg und andere Notlagen vor allem im Täuschungsschutz auch ganz unterschiedliche Grade des Schutzes zur Folge haben, kann ich, da ich den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit bewusst erlebt habe, ohne Belege behaupten.

Nun kann der Staat natürlich seine Aufgabe nicht kasuistisch erfüllen und die Beispielfälle, die ich dargestellt habe, zeigen dies eindeutig. Er kann den Schutz des Verbrauchers nur durch abstrakte Rechtssätze regeln und muss deren Konkretisierung delegieren. Dazu sind in unserem Rechtsstaat letztlich allein die Richter berufen. Nicht die Verbraucher, ob nun aufgrund einer demoskopischen Meinungsbefragung oder durch das Medium eines Verbraucherleitbildes, sondern die Gerichte haben abstrakte Rechtssätze wie die Irreführungsverbote auf den konkreten Sachverhalt anzuwenden.

Natürlich haben die Verbraucher und damit auch die für sie tätigen Organisationen ebenso wie Wissenschaft, Wirtschaft und Fachleute des Vollzugs bei der Erarbeitung der Rechtvorschriften Einfluss auf den Verbraucherschutz. Es steht Ihnen aber in einem Rechtsstaat nicht zu, sich an die Stelle der richterlichen Gewalt zu setzen. Das gilt auch für die von der Lebensmittelkommission in Anspruch genommene Prägung (auf Grund der ihr zukommenden Autorität ist es nach meiner Ansicht geboten, eine über die Feststellung der Verkehrsauffassung hinausgehende Prägung entsprechend dem Transparenzprinzip als solche kenntlich zu machen).

 

3.

Nun haben wir uns bis zu der Feststellung, dass unser Anbieter von Tomaten aus Gewächshäusern in Holland objektiv den Täuschungstatbestand verwirklicht hat, durchgearbeitet. Verurteilt werden darf der Anbieter nach unseren rechtsstaatlichen Grundsätzen aber nur, wenn er schuldhaft gehandelt hat. Und damit komme ich zu dem dritten Thema, mit dem ich mich hier beschäftigen will.

Allerdings bin ich mir nicht sicher, dass eine Behandlung des Schuldvorwurfs im Lebensmittelrecht für die Praxis von Interesse ist. Als ich mit einer Anwaltstätigkeit begann und damals noch Universitätswissen parat hatte, war ich nahezu empört, dass bei lebensmittelrechtlichen Beanstandungen der Schuldvorwurf keine Rolle spielt. Ein Hersteller oder Händler, der objektiv und rechtswidrig gegen eine lebensmittelrechtliche Vorschrift verstieß, wurde geahndet. Im Vollzug der Lebensmittelüberwachung, die sich seinerzeit noch nicht mit verwaltungsgerichtlicher Kontrolle herumplagen musste, führte ein Verstoß ohne weitere Bemühungen um den Schuldvorwurf zur Anklage bzw. Bußgeldern.

Und das ist auch heute noch so, denn die verwaltungsgerichtliche Beurteilung, die übrigens zu Beginn meiner Tätigkeit allgemein abgelehnt wurde, ist mit dem strafrechtlichen Schuldvorwurf nicht befasst.

Um das zu belegen, muss ich etwas tiefer in das allgemeine Strafrecht einsteigen und hoffe, dies so darzustellen, dass auch Nichtjuristen Interesse an meinen Ausführungen haben:

In den ersten Semestern meines Studiums habe ich gelernt, dass bei der Anwendung strafrechtlicher Vorschriften drei Schritte zu vollziehen sind, nämlich

•          die Prüfung des objektiven Tatbestands, zum Beispiel ob eine Angabe irreführend ist

•          die Prüfung, ob dies rechtswidrig ist (darauf will ich hier nicht eingehen) und

•          die Prüfung ob schuldhaft gehandelt wurde.

Im dritten Schritt wird nun davon ausgegangen, dass rechtswidriges Verhalten auch die Schuld begründet, wenn nicht Schuldausschließungsgründe vorliegen.

Das ist aber nach meiner Auffassung nichts anderes, als ein Verzicht auf die Feststellung der persönlichen Schuld.

Demgegenüber hält sowohl die Rechtsprechung als auch die Rechtswissenschaft an der Schuld als Element der Strafbarkeit fest. Allerdings nach meinem Verständnis nur scheinbar. Ich beziehe mich dazu auf Roxin, einem der führenden Rechtstheoretiker im Strafrecht. Er bezeichnet Schuld als

unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit.

Das subjektive Element in dieser Definition der Schuld, die normative Ansprechbarkeit, wird von Roxin bejaht, wenn der Täter keine der ihm psychisch prinzipiell zugänglichen Verhaltensalternativen ergreift (§ 19 Rn. 37). Entscheidend ist hierbei das Wort prinzipiell und die anschließende Bezugnahme auf den gesunden Erwachsenen; damit wird die Verbindung des Handelns mit den persönlichen Fähigkeiten des Handelnden im Zeitpunkt der Handlung nach meinem Verständnis aufgehoben, zumindest entscheidend eingeschränkt.

Die Problematik der persönlichen Schuld wird nun besonders deutlich bei Fahrlässigkeitsdelikten. Bei dieser Deliktsform werden zwischen dem tatsächlichen Verhalten und der gesetzlichen Norm abstrakte Rechtspflichten, d.h. im Lebensmittelrecht die Sorgfaltspflichten eingeschoben, deren Verletzung die Schuld begründet.

Damit komme ich zum Lebensmittelrecht, in dem weit überwiegend Fahrlässigkeitsdelikte entschieden werden und in dem der Verzicht auf die individuelle Schuld besonders augenfällig ist.

Nach den allgemeinen Grundsätzen zur Sorgfaltspflicht im Lebensmittelrecht ist Maßstab ein einsichtiger und besonnener Mensch aus dem Verkehrskreis und in der Lage des Täters (Rn. 171).

Der Schuldvorwurf wird danach wie folgt formuliert:

Fahrlässiges Handeln liegt .. dann vor, wenn der Betroffene die Sorgfalt, zu der er nach den Umständen und seinen persönlichen Fähigkeiten verpflichtet und imstande ist, außer acht läßt und deshalb die Tatbestandsverwirklichung nicht erkennt und voraussieht

Mit diesem Satz wird zwar auch auf die persönlichen Fähigkeiten abgestellt, aber in Verbindung mit einer Verpflichtung aus den Umständen und damit auf ein generelles Kriterium, das die Bezugnahme auf die persönlichen Fähigkeiten des Handelnden im Zeitpunkt der Tat praktisch aufhebt. Es kommt also nicht auf diese subjektiven Fähigkeiten des tatsächlich Handelnden an, aus denen sich ein Fehlverhalten dieser Person ergeben kann; Maßstab ist die Sorgfaltspflicht, eine abstrakte Verpflichtung, mit der die Schuld, abgesehen von wenigen  Schuldausschließungsgründen, unabhängig von den persönlichen Fähigkeiten indiziert, d.h. bejaht ist.

Dabei sind nach allgemeiner Ansicht an die Erfüllung der Sorgfaltspflichten inhaltlich hohe, nach zahlreichen Urteilen höchste Anforderungen zu stellen. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die sogenannte Schuld noch mehr von den persönlichen Fähigkeiten des Verantwortlichen abgehoben wird.

Dazu als Beispiel die Äußerung der Generalstaatsanwaltschaft in einem vom OLG Zweibrücken entschiedenen Fall LMRR 2005, 85), deren Ausgangspunkt der folgende, allgemein anerkannte Grundsatz war:

Fahrlässig handelt u .a. der, der eine objektiv gebotene Sorgfaltspflicht verletzt.

Allein diese Formulierung zeigt schon, dass die Entscheidung nicht auf einer persönlichen Sorgfaltspflicht, sondern auf einem generellen Maßstab beruht. Dem entsprechen die nachfolgenden Ausführungen:

Für den Umgang mit Lebensmitteln bedeutet dies, dass derjenige, der Lebensmittel in Verkehr bringt, die Sorgfalt anzuwenden hat, die zur Einhaltung der zum Schutz des Verbrauchers festgelegten Anforderungen an die Lebensmittel erforderlich und ihm nach den jeweiligen Umständen möglich und zumutbar ist.

Auch diese Formulierung knüpft nur scheinbar an persönliche Fähigkeiten an; denn was möglich und zumutbar ist, wird ebenfalls generell beurteilt. Die Zumutbarkeit ist zwar auf den konkreten Sachverhalt, jedoch nicht auf die Person bezogen. Das zeigen die nachfolgenden Ausführungen:

In diesem Zusammenhang hat die obergerichtliche Rechtsprechung dem Importeur von Lebensmitteln u.a. eine Pflicht zur stichprobenweise Untersuchung auf Rückstände von Pflanzenschutzmitteln … auferlegt. Danach muss der Umfang der Stichproben so groß sein, dass das Inverkehrbringen von gesetzwidrigen Lebensmitteln verhindert wird.

Nun folgt:

In welchem Umfang und in welcher Dichte die Stichproben durchzuführen sind, ist dabei anhand der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen.

Dass damit nicht die individuellen Möglichkeiten im konkreten Fall gemeint sind, zeigt der nächste Satz:

Auf der Grundlage der Bekanntmachung des Bundesministers für Gesundheit über die Sorgfaltspflicht der Importeure beim Inverkehrbringen von Lebensmitteln …  sind Kriterien zur Beurteilung der Sorgfaltspflicht u .a.:Art der Lebensmittel, Wahrscheinlichkeit der Abweichung von der gesetzlich zulässigen Beschaffenheit, Herkunft der Ware.

Daraus folgt:

Die Prüfung der individuellen Schuld durch fahrlässiges Verhalten beruht nicht auf persönlichen Einsichten, sondern auf objektiven, d.h. generellen Anforderungen für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht, die persönlichen Fähigkeiten spielen in der Praxis keine Rolle.

Als weiteres Beispiel zitiere ich aus einer Entscheidung des OLG Koblenz (LMRR 1988, 30); das Gericht führte unter Bezugnahme auf das erstinstanzliche Urteil aus, es sei die Verpflichtung des Betroffenen,

im Rahmen seiner Möglichkeiten dafür zu sorgen, daß die Bezeichnung des beanstandeten Lebensmittels im Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen stand. … Hätte der Betroffene sich bei fachkundigen Stellen über diese Frage unterrichtet, so hätte er erfahren, daß sich der Fettanteil der Sahnesoße auf das Endprodukt beziehen müsse.

Daraus ergibt sich, dass der Rahmen der Möglichkeiten des Betroffenen auf Auskünfte fachkundiger Stellen bezogen und damit generell bestimmt wird. Letztlich geht es dem Gericht allein  um die Verhinderung lebensmittelrechtlicher Verstöße durch objektivierte Sorgfaltspflichten und damit keineswegs um die individuelle Schuld.

An dieser Stelle will ich zunächst eindeutig hervorheben, dass ich diese Anwendung lebensmittelrechtlicher Vorschriften weder vom Ergebnis her noch in der Begründung kritisiere. Es geht mir nur darum aufzuzeigen, dass die persönliche Schuld zumindest im Lebensmittelrecht keine wesentliche Bedeutung mehr hat.

Demgegenüber wird jedoch in der Strafrechtswissenschaft weit überwiegend am Schuldprinzip festgehalten und ihm sogar ein verfassungsrechtlicher Rang zugesprochen.

Trotzdem stellt sich für mich die Frage, ob der moralisch und theologisch besetzte Begriff Schuld im Strafrecht, und ich meine damit das gesamte Straf- und Bußgeldrecht, nach heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen noch vertretbar ist.

Diese Erkenntnisse besagen, dass der Mensch entsprechend seiner genetisch bestimmten Veranlagung, epigenetischen Prozessen und seiner Prägung durch Erziehung, Umgebung und Erfahrungen handelt. Er bildet für sein Verhalten Maßstäbe, die an den geltenden Normen mehr oder weniger oder auch überhaupt nicht orientiert sind. Das entscheidende ist hier nun,

–   dass alle Elemente der Veranlagung und Prägung, insbesondere

-          die Prägung ganz unterschiedlicher Motive, Wünsche, Empfindungen  und normativer Maßstäbe durch Erfahrung sowie

-          die aus Veranlagung und Prägung gebildeten gleichfalls höchst unterschiedlichen prozessualen Fähigkeiten der Reflexion einschließlich Selbstkontrolle

neuronal gespeichert sind,

–  dass diese Erfahrungen und Fähigkeiten das Handeln in einer vielfältigen Konkurrenz untereinander sowie in unterschiedlicher sowie variierender Stärke beeinflussen, im Jargon „feuern“

–  sodass völlig offen ist, ob und gegebenenfalls welche dieser  Erfahrungen und Fähigkeiten im Zeitpunkt der Handlung wirksam sind.

Daraus folgt für mich, dass die Strafe nicht mit persönlicher Schuld, sondern nur mit sozialer, anders ausgedrückt gesellschaftlicher Missbilligung begründet werden kann und dass die sogenannten Schuldausschließungsgründe, die in der Praxis von dem Schuldvorwurf noch übrig geblieben sind, ausschließlich darin bestehen, die gesellschaftliche Missbilligung nicht zu vollziehen.

Hinzu kommt eine Überlegung zur Willensbildung:

Schuld ist, bezogen auf eine Handlung, die Missachtung einer Norm. Beruht die Handlung, wie eben gesagt, auf einer unbekannten Vielzahl von Erfahrungen und prozessualen Fähigkeiten, die mehr oder weniger stark zur Handlung drängen, so entscheidet sich erst im Zeitpunkt der Handlung, welche persönlichen Erfahrungen und Fähigkeiten sich durchsetzen. Zudem können sich diese Einfluss nehmenden Elemente noch in der letzten Sekunde ändern. Wenn zum Beispiel derjenige der Zuhörer, der mir aufgrund dieser Ausführungen ein Messer in den Rücken stecken möchte, im letzten Moment das Messer zurückzieht, äußert sich sein Handlungswille erst in diesem Zeitpunkt. Daraus ergibt sich, dass es gar keinen Willen gibt, sondern nur Fähigkeiten sowie Motive und dann die Handlung. Oder etwas drastischer ausgedrückt: das was gemeinhin als Wille bezeichnet wird, ist ein  ununterbrochen sich durchwirbelndes Konglomerat verschiedenster Fähigkeiten und Motive, die in der Handlung schlicht verpuffen.

Für eine Schuld, gemessen an der Norm, die bei der Willensbildung möglicherweise gar nicht bewusst war oder verloren gegangen sein kann, bleibt danach kein Raum.

Hiernach ist übrigens auch das Problem der inneren Willensfreiheit erledigt, es ist ebenso ein Phantom, wie der flüchtig aufmerksame Verbraucher.

Natürlich kann und will ich dies hier nicht näher ausführen. Sie werden mich ohnedies fragen, was das alles mit dem Jubiläum des Lebensmittelrechtstages zu tun hat.

Nun lautet ja das Thema dieses Lebensmittelrechtstages „Lebensmittelrecht im 21. Jahrhundert“ und dieses Jahrhundert ist erst 16 Jahre alt. Das Thema schließt mithin auch die nächsten 83 Jahre dieses Jahrhunderts ein und ich könnte mir durchaus vorstellen, dass sich einer der nächsten 82 Lebensmittelrechtstage mit dem Strafrecht im Lebensmittelrecht befasst.

Und dazu bestünde auch durchaus Veranlassung, weil die straf- und bußgeldrechtliche Ahndung im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der Union nach meinem Eindruck nicht ausdiskutiert ist. Die Union ist wohl bemüht, die Ahndung von Verstößen gegen Unionsvorschriften an sich zu ziehen, die Mitgliedstaaten dürften aber unter dem Schild des Subsidiaritätsprinzips damit kaum einverstanden sein. Das gilt in Deutschland auch für die dogmatischen Aspekte, die der Union wohl ziemlich egal sind.

So gesehen liege ich mit meinen Überlegungen zur Bedeutung der Schuld im Lebensmittelrecht vielleicht doch im Interessensbereich der noch folgenden 82 Lebensmittelrechtstage im 21. Jahrhundert.

 

 

Meine Damen und Herren

als ich vor ca. 6 Wochen in der Bahn von Utting nach Aschaffenburg fuhr, habe ich mir fest vorgenommen, an diesem Lebensmittelrechtstag den Mund zu halten. Ich war und bin eigentlich immer noch der Meinung, dass ich in den vielen Jahren der Teilnahme genügend Diskussionsbeiträge geliefert habe und dies jetzt –  meinem Alter entsprechend – anderen überlassen sollte.

Als ich dann beim Umsteigen in Würzburg eine halbe Stunde Zeit hatte, habe ich mein Handy angemacht und geprüft, ob Anrufe vorliegen. Das war der Fall, Herr Professor Sosnitza hatte versucht, mich zu erreichen. Wir haben dann miteinander telefoniert und dabei fragte er mich, ob ich den Vortrag von Herrn Staatssekretär Billen übernehmen könne, da Herr Billen abgesagt habe.

Das war nun diametral das Gegenteil meiner Absicht, diesmal im Forum den Mund zu halten. Ob ich besser bei meiner ursprünglichen Absicht geblieben wäre, müssen Sie beurteilen.

Ich bedanke mich jedenfalls bei allen, die mir zugehört haben.

 

Rechtsanwalt Kurt-Dietrich Rathke

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Ein "Festvortrag" im Ersatzmodus

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